Zu kurz
St. Petersburg, 31. O7. 2014
Über Tallin will ich noch schreiben. Ich hab das Gefühl, dass die estnische Hauptstadt bei mir etwas zu kurz kommt. Ich war ja auch nur einen Tag da. Und war nur drei Tage vorher drei Tage lang in Riga. Und bin jetzt schon in St. Petersburg. Kein Wunder, dass ich nicht so recht weiß, was ich über Tallin schreiben soll. So muss sich ein Fußballreporter fühlen, der am Mittwochabend ein tolles Championsleague-Spiel gesehen hat, jetzt am Wochenende ein noch faszinierenderes WM-Spiel live miterlebt, aber noch ein Freitag-Abend-Spiel der Bundesliga nachkommentieren soll.
Hinzu kommt, dass Tallin und ich keinen guten Einstand hatten. Aber was kann die schöne Altstadt dafür, dass ich durch einige hässliche Vororte hindurch muss und zu hohe Bordsteine mit viel Ballast nehme? Gleich zwei Speichen sind am Hinterrad gebrochen.Tallinn hat daran keine Schuld.
Was hat der herrliche Rathausplatz damit zu tun, dass der „Tallinn City Kemping“ doppelt so teuer ist wie der Platz in Riga?
Dennoch hat er weder Küche noch Spülbecken und die Sanitärraume verschimmeln. Welchen Zusammenhang gibt’s zwischen den schmuckvollen Fassaden, Fenstern und Türen der Gildehäuser und dem am ehemaligen Olympia-Segel-Hafen liegende Caravan-Platz, der zu wenig Rasenfläche für die vielen Zelte hat? Dafür darf ich mich in den gepflegten Räumen eines Tennisclubs duschen, muss dazu aber 150 m weit laufen, zwei Treppen steigen und jedes Mal 3 € zahlen.
Welche Schuld trifft den großen Freiheitsplatz mit dem riesigen Glaskreuz, wenn das Tourismusbüro sonntags nach 18.00 Uhr geschlossen ist?
Genauso wenig kann die verwinkelte Oberstadt mit ihrer schönen Aussicht über die komplette Unterstadt und der wehraften Stadtmauer mit den vielen runden Türmen dazu, dass ich in meinen verschwitzten Radklamotten in der Stadt nichts gegessen hab?
Nun kann ich am Zelt nach der eineinhalb stündigen Speichenreparatur – zuerst habe ich verzweifelt versucht eine Speiche einzuschrauben, die sich nachher als zu kurz erwies – noch ein Nudelfertigpaket aufkochen. Im Dunkeln mit Stirnlampe. Das liebe ich. Und Tallinn?
Ganz früh am noch verkehrsleeren Montagmorgen nehme ich den Kopfstein-Anstieg zum Schlossplatz. Der hat schon ein wenig von der „Muur“, nicht ganz so steil und wesentlich kürzer. Aber oben wartet auch eine Kirche. Eine orthodoxe vergoldete Schönheit. Gleich daneben das Parlament. Auf der anderen Seite die feudale Residenz der Deutschen Botschaft.
Noch sind kaum Touristen da. Eine ganz junge Postkarten-Verkäuferin baut gerade ihren Stand auf. Ob ich nicht Karten kaufen möchte, fragt sie mich gleich, als ich noch außer Atem das Rad an eine Laterne lehne. Als sie merkt wie ich japse, entschuldigt sie sich: „Sorry, take your time.“ Den Isenbruchern und Tante Sefa, die nicht im Internet lesen, könnte ich wirklich mal schreiben. Karten kosten 70 Cent. Briefmarken hat sie auch dabei. 1,10 € fürs Ausland, bei ihr 1,30. Kleingeld ist noch ein Problem, aber schließlich bekommt sie glatte 4 €.
Stift hab ich in der Lenkertasche. Briefkasten hängt gleich gegenüber. Als ich zum Rad zurück komme, strahlt sie mich an und kann nicht mehr an sich halten: Es sei ihr erster Arbeitstag überhaupt. Zum ersten Mal dürfe sie einen Ferienjob annehmen, weil sie jetzt 16 sei. Und gerade erst hätte sie geöffnet und schon hätte sie vier Euro eingenommen. Sie sei so glücklich und möchte sich noch mal bei mir bedanken. Als ich dann frage, erfahre ich, dass sie Lilian heißt, nach dem Schulabschluss Mathematik studieren möchte am liebsten in den Niederlanden. Dort sei „easy living“ möglich, denkt das etwas naive, heute Morgen besonders glückliche Mädchen in seiner wenig flotten Verkaufstracht. Bleibt das meine einzige angenehme Erinnerung an Tallinn ?