(W)ARM HERZIG

Mein bruder Jo behält sicherlich für Albanien recht mit seiner vor meiner abreise geäußerten befürchtung: „Viel armut wirst du sehen“. Noch präziser sagte der serbische reiseleiter von HD-reisen voraus, was ich in Albanien erleben würde: „Bunker, überall bunker. Und eine solche Armut, die willst du nach drei tagen nicht mehr sehen.“ 

Die halbkugelförmigen unterstände empfinde ich gar nicht so auffällig. Da stört mich der überall haufenweise herum liegende müll mehr. Überdrüssig aber werde ich dieser auf mich deprimierend wirkenden armen menschen. Unabänderlich scheint das schicksal so großer bevölkerungsteile, die wirklich nur das allernötigste zum leben auftreiben können. Unverständlich und vermeidbar empfinde ich die miserablen wohn- und hygienezustände, wenn man daneben ein neues hotel, die von ausländischen konzernen restaurierte oper, die neue Wester Union bank sieht. Schließlich beginnt man sich verantwortlich zu fühlen für die missstände, weil man zu wenig weiß über deren geschichte und zusammenhänge und nichts tut gegen sie.

Die Albaner selbst sind ganz anders drauf. Stolz fuehren sie die historischen sehenswürdigkeiten und grossartigen landschaften auf. Sie empfehlen den besuch ihrer städte. Sie zeigen selbstbewusst die museen, moscheen und monumente. Sie verweisen auf den üppigen ertrag an obst und gemüse, die reichhaltigen märkte, das gute essen, ihr bier und ihren wein. Auch wenn die überwiegende mehrzahl von ihnen sich diese dinge kaum einmal leisten kann. 

Ihre unglaubliche hilfsbereitschaft habe ich mehrfach erlebt: Mein schweres rad hält die verkäuferin in Tirana und die frau des hoteliers in Elbasan so lange, bis ich wasser, obst und brot  bzw. meine sandalen und den helm auf dem gepäckträger verstaut habe. Abends tragen vater und sohn gemeinsam das rad mit gepäck in den hotelkeller und morgens steht es schon abfahrbereit an der hoteltür.
Als ich im zentrum Tiranas die straße nach Elbasan nicht finde, fragt ein sammeltaxi-fahrer mich, wo ich denn hin möchte. Als ich antworte nach Elbasan, zeigt er mir das EL auf dem kennzeichen seines alten Transit.  Eindringlich versichert  er mir, er fahre jetzt dorthin und ich könne ihm folgen. Mit seinem voll besetzten bus fährt er recht langsam vor mir her, bis ich auf der richtigen ausfallstraße bin. Zweimal hält er an und steigt aus, als er merkt, dass ich sein tempo nicht halten kann. Einmal bietet er an, mein „bagage“ nach Elbasan mitzunehmen, akzeptiert aber sofort, dass ich das nicht möchte. Beim zweiten stop sind zwei seiner fahrgäste noch mehr zusammengerückt und zeigen auf einen schmalen freien platz zwischen sich und einer jungen sintifrau, die mir signalisiert, ich könne ruhig einsteigen. Als ich auch das angebot ablehne, lachen alle im bus. Ein englisch sprechender fahrgast hüpft noch rasch vom beifahrersitz zu mir ans rad, feuert mich noch mal an, befühlt meine oberschenkel und meint einerseits anerkennend, andererseits ein wenig belustigt:“You are a very strong man, chermano!“
Er springt wieder in den bus und winkt noch mal, ich solle wieder folgen. An den nächsten beiden kreuzungen zeigt der fahrer mir kurz, wo’s lang geht. Dann beschleunigt er laut hupend richtung Elbasan. Alle im bus hinten sitzenden sowie fahrer und beifahrer winken mir zum abschied.