SCHWACH STELLE
Edirne, 18. 04. 09
Zum thema radfahren bekomme verschiedene mails. Men schreibt ich solle noch eben durchbeißen. Dann hätte ich es geschafft. Werner schreibt, ich solle die verbleibenden monate nutzen für mich. Thomas meint, ich sei viel schneller unterwegs, als ich plante. Ich solle langsamer machen.
Vielen dank für die lieb gemeinten ratschläge. Nur allzu gut weiß ich, dass sie mir wünschen, ich möge meine auszeit und das radfahren genießen. Aber an solchen tagen muss ich einfach km machen. Da kann ich mich nicht in die sonne legen. Ich wäre abends enttäuscht, wenn ich an solch einem milden frühlingstag, in so einer reizvollen landschaft nicht ein gutes stück weiter gekommen wäre.
Durch die reise soll sich schon was ändern bei mir:
Mit größerer ruhe bevorstehendes annehmen. Mit größerer gelassenheit unabänderliches hinnehmen. Mit größerer zufriedenheit erreichtes wahrnehmen. Mehr zuhören und weniger reden. Mehr akzeptieren und weniger kritisieren. Mehr das genießen im auge haben und weniger das leisten.
Doch bei aller notwendigkeit der entschleunigung meines lebens: eine künstliche verlangsamung meiner reise, die evt. zum ungewollten und unbefriedigenden stillstand führt, könnte ich nicht aushalten. Nach den öden wartezeiten im januar und februar schon gar nicht.
Eine solche drosselung stünde auch im widerspruch zu der idee einer jahresreise, die – bei aller ausgedehntheit und freiheit – doch auch ihre zeitlichen grenzen hat.
Der andere bedeutendere faktor ist die bewegung. Fortbewegung im weitesten sinne. Nicht nur die körperliche beim radfahren. Nicht nur die lokale ortsveränderung beim reisen. Auch die geistig seelische bewegung auf andere menschen und kulturen zu und in mich selbst hinein.
Ich muss mich einfach bewegen. Ob es nun das wackeln vor dem einschlafen ist, die „restless legs“ bei psychischer belastung, das rumhampeln mit armen und händen beim sprechen, das radfahren oder das bedenken, planen und festhalten neuer vorhaben.
So viel ‚action‘ will ich oft nicht. Zumindest nicht in diesen formen und dieser intensität. Aber es gehört zu mir. Nicht immer kann ich es steuern. Punktuell und graduell kann ich es verändern. Inzwischen akzeptiere ich mich als „perpetuum mobile“. So lange es nicht zur belastung wird – für mich oder andere.
Täglich bin ich unterwegs. Immer möchte ich irgendwohin. Nicht unbedingt an neue orte. Aber etwas sehen, erleben, genießen, erledigen. Und wenn es schreiben, zeichnen oder ausruhen ist. Ich entscheide spontan, meist abends zuvor, was ich morgen mache. Niemand redet mir rein. Aber dabei komme ich auch an grenzen: visa, fähren, behörden, winter, wind, meine eigenen fähigkeiten, …
In bewegung bin ich ständig. Das bedeutet nicht, dass ich nicht auch muße habe und pausen einlege zur reflexion und entspannung. Meine reise-statistik weist bis zum 15. april 174 rad- und 88 pausen- und transfertage aus. Manche dieser pausen waren unbeabsichtigt. Zwei haben mich ganz kribbelig gemacht. Dennoch kann ich wirklich mit recht behaupten, ich bin ohne hast unterwegs.
Wenn ich mit dem rad zu wenig tempo mache, kippe ich um. Wenn’s berghoch geht, sogar sehr bald, aber zum glück meist sanft. Bergab werde ich mit dem gepäck ganz schön schnell. Ohnehin lasse ich es runter nur laufen. Bremse, wenn’s heikel wird. Auf schweren etappen mach ich richtig langsam! Ich kann gar nicht anders. Da habe ich keine Wahl. Da muss ich mich durchbeißen. Doch in dieser anstrengung liegt dann auch wieder genuss. Leisten und genießen – beides gehört zu meinem leben.
Der radreisegenuss korreliert mit dem fahrtempo. Bei extremen geschwindigkeiten kann ich nicht genießen. Für die höchste Form des genussradelns finde ich keine aussagekräftigere formulierung als „es rollt“. Über dieses glücksgefühl hab ich schon mal geschrieben.
Aber wenn es nicht rollt, muss ich das auch akzeptieren lernen. Ohne es doch noch zum rollen bringen zu wollen. Und mehr noch: Ich will lernen, das ’nicht-rollen‘ auch als mein möglichstes, mein bestes anzunehmen. Es darf mir ruhig schwer fallen. Nicht als schwäche ankreiden, sondern als stärke gut schreiben, will ich mir, dass ich mich bemühe, selbst wenn ich mal schwächele. Schwach sein gehört zum mensch sein, aber bislang noch nicht zu meiner vorstellung von mir.
Schwäche zeigen und sich dabei nicht mies fühlen. Das ist mein problem. Das habe ich bisher erst selten geschafft. Darin bin ich ungeübt. Das hat’s in meinem elternhaus nicht gegeben. Auch später hab ich’s nie gekonnt. Nicht nur für mein weiteres berufsleben ist das ein ganz wichtiges lernziel.