SCHEISS STÜCK
Von Altea nach Calpe sind es nur 11 Kilometer. Okay – von Albir aus, wo ich campe, drei mehr. Aber die roll ich frisch runter. Bis es eng wird zwischen den dreckig weißen Fassaden in der mehrmals täglich verstopften Durchgangsstraße des alten Städtchens. Doch was dann zwischen Kilometer 157 und 168 der N 332 auf mich wartet, ist ein Scheißstück. Zweispurig, viel befahren, Urlaubs-, Berufs- und Lieferverkehr, schwere LKW, Busse, Wohnmobile, Camper-Gespanne. Und im Frühjahr hunderte Rennradfahrer.
Mehrere Abbiege- und Einfahrspuren führen zu urbanizaciones, platjas, zum centro commercial oder zur AP 7, der parallel verlaufenen mautpflichtigen Autobahn, auf der anscheinend keiner unterwegs ist.
Altea liegt auf Meeresniveau und Calpe auch. Dazwischen macht aber der mehr als 300 m hohe Monte Toix die Strecke ziemlich lästig, den ich auf der direkt an der Küstenlinie entlang führenden Nationalstraße in mehreren Anstiegen überwinden muss – egal in welche Richtung ich fahre. Zwischen den beiden Orten gibt es nur diese Straße. Immer wieder hätte ich einen wunderschönen Blick aufs Meer. Den schönsten übrigens vom Mirador de Monte Toix einer Aussichtsplattform in 260 m Höhe, die aber nur zu Fuß erreichbar ist. Aber heute nehme ich mir dafür keine Zeit. Von Altea kommend läuft es hinter der Brücke über den Algar noch mal kurz runter, um dann ebenso sanft anzusteigen bis L’Olla, wo ich ab Hotel Cap Negret, in dem viele Radrennfahrer unterkommen, über ne kleine Kuppe muss. Ab dem *****Hotel Villa Gadea geht‘s dann zum ersten Mal richtig rauf. Ganz lässig bleib ich den ersten Kilometer auf dem 50er Blatt. Aber in den fünf aufeinander folgenden Kurven zwischen der Auffahrt nach Altea Hills und dem Abzweig zur playa del Solsida muss ich schon zweimal zurück schalten Dabei hab ich heute in Richtung Norden Rückenwind. Stolz registriere ich einem Schnitt von fast 27 km/h -auf den ersten 3 km. Den erreiche ich zuhause nicht mal zwischen Waldfeucht und Saeffelen. Auch so’n Scheißstück.
Noch vor dem auf der rechten Seite liegenden ‚masymas‘ Supermarkt muss ich die beiden jungen Belgier auf ihren Ridleys ziehen lassen, die mich in der vierten Kurve eingeholt haben. Rennfahrer sind das nicht, wie ich daran erkenne, dass an ihren Rädern keine Halter für Startnummern montiert sind. Bis zur Kurve, in der die goldenen Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirche durchs Laub schimmern, hole ich sie wieder ein, weil‘s runter geht und die beiden sich Zeit nehmen zum Quatschen. Auf dem jetzt folgenden Anstieg bei Mascarat etwa bei km 163 rücken die Felswände dicht an die Straße, so dass sie den Belgiern keinen Platz mehr lassen nebeneinander zu fahren. Die Schlaglöcher im Seitenstreifen sind hier mit grobem Beton ausgebessert, so dass wir alle drei hintereinander auf die Fahrbahn drängen, trotz des dichten Autoverkehrs. Hier ist es ein unangenehmes Scheißstück.
Ein maximal 90 cm breiter Randstreifen beidseitig neben den Autospuren vermittelt mir das trügerisches Gefühl von Sicherheit. Von der Fahrbahn durch eine weiße Rubbellinie abgetrennt, wähne ich mich geschützt vor zu eng vorbei fahrenden motorisierten Fahrzeugen. Doch dieser Eindruck täuscht. Die 90 cm kann ich ohnehin nicht komplett nutzen. Katzenaugen eingebaut im Abstand von fünf Metern aber leider auch um 20 cm nach innen versetzt in den Randstreifen hinein verringern meine Radspur auf 70 cm. Höchstens, wenn ich nicht ständig über die Reflektoren hoppeln will. Enge Kurven, eine echte Spitzkehren, nahe Felswände, durch Leitplanken gesicherte Böschungen auf den nächsten Kilometern nehmen mir immer mehr von meinem Fahrraum und auch von meinem Fahrspaß. Aus 70 werden 50, schließlich 30 Zentimeter. Von meinem Seitenstreifen bleibt bei ungewolltem Kontakt eine mich durch schüttelnde Rubbellinie auf diesem Scheißstück.
Bis Calpe folgen weitere Obstakel. Drei in den Felsen gehauene Tunnel. Zwischen 60 und 130 m lang. Mit geschätzten zwölf Metern Breite müssten sie zwischen den hohen Felswänden eigentlich genug Raum lassen für zwei ausreichende Auto- und zwei vernünftige Radspuren. Doch in den Tunneln wurde für die zahlreichen Fußgänger zwischen Calpe und Altea – wer läuft hier schon freiwillig lang? – auf jeder Seite ein höher liegender, ein Meter breiter Bürgersteig eingebaut und mit hohem Bordstein vor der Benutzung durch Radfahrer geschützt. Zur Fahrbahn hin folgt der vielleicht 40 cm breite Seitenstreifen mit den Katzenaugen drin und die geliebte Rüttellinie entlang der Autospur. Also bleibt mir in den Tunneln nur noch die Fahrbahn. Und genau hier überholt mich der Lidle-Truck, der heute morgen meine Bananen in die Filiale nach Albir gebracht hat. Sein Horn lässt mich zusammenfahren, sein Luftzug saugt mich fast mit. Mein Gott, in den Tunneln ist das wirklich ein Scheißstück!
Meine Lenkkünste sind gefordert. Mit ängstlich zittrigen Armen schlenkere ich zwischen der Leitplanke und den Katzenaugen hin und her. Echte Rennradfahrer haben hier keine Probleme. Wie die schnelle polnische Trainingsgruppe, die sich im Profimodus wähnt, als sie zu 8 Paaren Schulter an Schulter an mir vorbei prescht. In ihren neongrün-schwarzen, eng anliegenden Polyester-Klamotten voller Werbung für polnische Fleischwaren und einer mitteleuropäischen Telekommunikationsfirma quetschen die Jungs dann an einem haltenden Pannenfahrzeug vorbei zwischen Lkw-Außenspiegeln und Leitplanken hindurch, wobei sie nicht nur ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, sondern auch die teuren Hochprofilfelgen ihrer Carbon-Räder, als sie durch die hier noch nicht geflickten Schlaglöcher knallen. Jetzt wird der Durchschlupf auch für ihre schmalen Hüften zu eng. Genau wie ich und alle anderen Fahrzeuge wechseln sie noch knapp vor dem zweiten Tunnel auf die Autospur. Hinter ihnen und mir bilden sich unmittelbar Schlangen von mehr als 10, ja 15 Fahrzeugen, auch wenn ich noch so kräftig in die Pedale trete und mir nach nicht mal sechs Kilometern die (Angst-)Schweißtropfen am Bauchspeck entlang in die Radhose kullern.
Den Autofahrern bleibt nichts anderes als ungeduldig hupend und aufgeregt schimpfend hinter mir zu bleiben oder trotz Gegenverkehrs an mir und der polnischen Truppe vorbei zu drängeln. Was die ansonsten so coolen Radsportler wieder mit lauten Flüchen und bösen wegwerfenden Handbewegungen kommentieren. Hinter einer Radgruppe geduldig abwarten, bis sie nach einer Fahrbahnverengung wieder auf den Rad-Seiten-Streifen wechseln kann? Das erlebe ich heutzutage nirgendwo mehr. Schon gar nicht auf diesem Scheißstück.
Durch ein zu vorsichtig durch den letzten Tunnel schaukelndes norwegisches 8 m-Clou-Wohnmobil komme ich wieder näher an die Gruppe ran. Doch jetzt wartet der Anstieg zur renovierungsbedürftigen Unterführung der Bahnlinie Alicante-Denia. Obwohl ich auf dem großen Blatt im Wiegetritt mein mögliches tue, kann ich die polnischen Jungs nicht halten. Zwischen den bröckelnden Stahlbetonpfeilern der Eisenbahnbrücke kommen zwei Lkw kaum aneinander vorbei. Hier müssen wieder alle auf die Straße. Der Fiat-Doblo einer hiesigen Heizungsfirma überholt mich mit ausreichendem Abstand. Der Sprinter der Reinigung ‚Lida‘ aus Benidorm dagegen kommt mir mit seinem Spiegel bedenklich nahe, als er dem entgegenkommenden Tankfahrzeug ausweicht, das ihm hupend entgegen rollt. Aber ich schaffe unbeschadet auch dieses enge Scheißstück.
Für die 12-köpfige Trainingsgruppe aus dem Hotel Albir Plaza, die ich wegen des Verkehrslärms gar nicht hab kommen hören, bin ich kein Hindernis. Drop en drover- sagt man in Niederländisch. Ich versuch erst gar nicht, mit ihnen mitzuhalten. Die eigenen Stärken muss man kennen und die Schwächen akzeptieren. Bis Maryvilla muss ich sowieso alles geben, damit ich in einem einigermaßen akzeptablen Tempo den höchsten Punkt auf dem ganzen Scheißstück erreiche.
Richtung „Schlafmütze“, einem nur abends geöffneten Restaurant mit deutscher Speisekarte und deutschem Bier, beruhigt sich abwärts „freewheelend“ mein Puls wieder auf unter 150 Schläge. Dabei verfolge ich mit frustriertem Interesse wegen des schon erheblichem Abstands, wie die Polen sich erfolgreich wehren gegen die von hinten drängelnde Hotel-Trainingsgruppe. Lächerlich, diese Männer-Spielchen, bei denen ich so gerne mitmachen würde.
Jetzt geht’s noch einmal leicht rauf zum „Frechen Dachs“, einer weiteren deutsch-tümlichen Kneipe. An ihr vorbei könnte ich erstmals einen Blick werfen auf Calpe und den dicken Felsklotz des Penon de Ifach.
Wenn ich nicht längst wieder mit krummen Rücken und der Nase auf dem Vorbau auf Verfolgungsjagd wäre. Die beiden quatschenden Belgiern von vorhin absolvieren anscheinend heute ihr regeneratives Training und lassen mich wieder rankommen. Hinter ihnen surre ich völlig entspannt runter bis zur Abbiegung in die Stadt. Kilometer 168 – Abfahrt Calpe norte. Zumindest für heute morgen hab ich es hinter mir – das Scheißstück.
Der Rückweg ist von den Steigungen her eigentlich leichter, fällt mir aber noch schwerer. Allein schon weil ich meist so um die 60, auch schon mal 80 Kilometer hinter mir habe und müde bin. Und weil heute der Wind mir tüchtig aus Südwest entgegen bläst.
Aus Calpe raus hab ich mich erst mal die einen Kilometer lange 8%ige Steigung in der Stadt hoch gekämpft. So’n Mist, dass die Ampel an der Fußgängerbrücke rot zeigte und ich anhalten und wieder neu anfahren musste. Jetzt geht’s mit 6% weiter hoch zur Unterführung unter der 332 hindurch beim Aitana Centro Commercial. Kurz vor dem Tunnel sackt die Straße ab. Aber in der Rechtskurve muss ich wieder stärker reintreten, weil ich beim Einbiegen auf die N zusehen muss, dass ich nicht zu langsam in den fließenden Autoverkehr einfädele. Seitenstreifen ist hier nämlich keiner, nur ne Abbiegespur zum Einkaufszentrum, auf der die Kundin mit dem kleinen Seat anscheinend schon so mit der Parkplatzsuche beschäftigt ist, dass sie mich glatt übersieht, bis ich laut schreie. Zwischen den grün-weißen Kunststoffpollern hindurch komme ich aber ungeschoren auf die Fahrbahn.
Ab jetzt packt mich der steife Wind und macht mir’s richtig schwer. Bis zum „Frechen Dachs“ möchte ich auf diesem Stück „fals plat“ nicht allzu langsam werden. Meine Oberschenkel brennen noch von den 8% in Calpe. Und meine Puls liegt nicht nur wegen des Schrecks über den beinahe Crash schon wieder bei 155. Jetzt hupt auch noch ein holländischer Caravan-Gespann-Fahrer hinter mir, weil er sich nicht traut mich zu überholen. Mir ist klar wieso. Inzwischen klettere ich ziemlich langsam und schaukele bedenklich hin und her. Seine grauhaarige Beifahrerin lächelt mir entschuldigend zu und hebt ermutigend ihren Daumen, als sie dann doch an mir vorbei kriechen. Ich denke, würdet ihr noch langsamer fahren, könnte ich mich hinter eurem Tabbert-Anhänger verstecken auf diesem windigen Scheißstück.
Zwischen den beiden Kneipen mit den deutschen Namen komm ich wieder zu Atem. Ist auch mehr als nötig. Hinter der Kurve beim Umspannwerk folgt nämlich der elend schwere Abschnitt, der nur einige hundert Meter kräftig ansteigt bis zur Anhöhe Mayvilla vor den Tunneln. Aber Steigung, Gegenwind und Müdigkeit zusammen holen die letzten Körner aus mir raus. Ausgerechnet hier scheint mir der Randstreifen besonders schmal und die tiefen Beton-Rinn-Steine bedrohlich nah. Prompt gerate ich auf die meine ohnehin geschundene Wirbelsäule durchschüttelde Rubbellinie. Ein bisschen nach rechts lenke ich und hoppele schon über zwei Katzenaugen. Fehlt nur, dass ich hier noch platt fahre auf den letzten Kilometern oder sogar noch hinfliege. Dieses Stück läuft wirklich Scheiße.
Obwohl aus dem letzten Loch pfeifend – darf ich jetzt auf keinen Fall aufs kleine Blatt wechseln. Dann hätte ich gleich null Chancen. Denn unweigerlich schließen bald Rennradler von hinten zu mir auf. Und in der Abfahrt vor und in den Tunneln knallen die trotz des oft böigen Seitenwinds zwischen den Felsen so was von schnell an mir vorbei. Ehe ich da wieder auf dem großen Blatt bin und Tempo machen kann, sind die alle weg.
Also stell ich mich, gebe fast alles und warte auf die heran nahenden Verfolger. Ein einzelner Norweger kommt zuerst. Er nickt mir aufmunternd zu. Seinen Windschatten erwische ich in der Linkskurve vor dem ersten Tunnel. Er bremst nicht ab vor dem in der blendenden Sonne dunklen Loch. Ich schon und – steh allein im Wind. Da höre ich das Surren von mindestens zehn, zwölf Naben hinter, nein, schon neben mir. Belgische Renner aus Wetteren mit Begleitfahrzeug. Arrogant donnern sie zwischen Tunnel zwei und drei an mir vorbei. Die sind auch für den Norweger zu schnell. Ich bleib sitzen und lasse laufen.
Doch das Scheißstück ist noch nicht zu Ende. Runter Richtung orthodoxer Kapelle schaffe ich wieder fast 40 km/h. Der Norweger ist zum Greifen nah. Die Belgier schon fast oben beim mas-y-mas. Die 200 m bis dort bleib ich auf dem großen Blatt, egal welches Feuer in meinen Oberschenkeln wütet. Ich will das Scheißstück endlich hinter mich bringen. Danach läuft es nur noch runter durch die engen Kurven vor Altea Hills. Unter dem Autobahnzubringer hindurch an dem 5-Sterne Hotel vorbei schaffe ich noch 37 km/h. Allerdings hinter fünf spindeldürren, kleinen spanischen Jungen. Die sind ja eigentlich zum Klettern geboren. Aber als sie mich überholen, laden sie mich mit einem freundlichen ‚Olla‘ ein, auf dieser Gefällstrecke hinter ihnen zu bleiben. Doch in ihren XS-Leibchen bieten sie mir kaum Windschatten. Wie kaputt muss ich aussehen, dass diese kleinen Kerle Mitleid mit mir haben?
Beim roten Kilometerpfosten 160 der N332 wartet endlich die letzte Asphaltblase auf mich. Noch einmal aufstehen, noch einmal den Rücken krümmen, noch einmal 50/12 legen, noch einmal über 40 – sonst lassen die iberischen Leichtgewichte mich hier auch noch stehen auf dem letzten Scheißstück.
Nein! Ich lasse sie! Nix mehr drin! Meine Beine – wie Flasche leer! An der Bäckerei lass ich’s gut sein. Ich gönn ihnen den Triumph. In L’Olla gibt’s an einem der urtümlichsten und ruhigsten Strände Alteas für 2,95 € einen halben Liter Estrella Damm. Direkt am Meer in der Sonne. Da setzt ich mich hin. Das hab ich mir verdient auf diesem Scheißstück.