Santiago – und ?
Dienstag, 18. 07.: Sarria – Santiago
18. und letzte etappe: Sarria – Santiago de Compostela
125 km 18,0 km/h insgesamt 2350 km
In meinem radpilgerführer sieht das höhenprofil der heutigen etappe so aus: von Sarria (420 m) geht es zuerst hoch nach Pacios (600 m), dann runter nach Portomarin (320 m), wieder hoch nach Ventas de Naron (750 m) und dann mehr als 75 km nur noch talwärts nach Santiago de Compostela, dargestellt als gleichmäßig schwach abfallende linie, denn die stadt liegt gut 500 m tiefer. Auf dieses letzte stück freue ich mich schon, kann aber nicht glauben, dass das nur runter geht.
Aber zunächst muss ich noch klettern. Bis Portomarin auf der C 535, einer herrlich ruhigen landstraße, die die ersten vier kilometer gleichmäßig ansteigt. Dann folgt ein ständiges auf und ab, schließlich die kurze kurvige abfahrt zum stausee vor Portomarin, das einige hundert meter höher liegt als die brücke über den gestauten Rio Mino. Der ortskern wurde oberhalb des sees neu aufgebaut, nachdem der alte ort durch den bau der talsperre überschwemmt wurde. Die wertvollsten alten gebäude hat man vor den fluten bewahrt und stein für stein wieder aufgebaut, wie z. b. die kirche San Juan aus dem 12. jahrhundert, ein wehrhafter einschiffiger bau mit einem sehenswerten portal.
Unter den arkaden an der hauptstraße finde ich einen gut sortierten lebensmittelladen, in dem ich mir ein üppiges zweites frühstück zusammenstelle, weil das erste heute morgen in Sarria wieder so unsäglich spärlich ausgefallen ist.
Als ich mein rad abschließen will, fehlt mir ein kabelschloss. Das muss ich in dem dunklen flur des hostals vergessen haben. Na ja, am letzten tag werde ich mir wohl nichts mehr stehlen lassen.
Obwohl es auf dem kirchplatz sehr weht und kühl ist, nehme ich mir genügend zeit zum essen auf einer bank, von der aus man leider den stausee nicht sehen kann.
Zurück zum fluss runter rollend überhole ich weitere fußpilger, die sich den anstieg zur ortsmitte erspart haben und vom stauseee aus gleich weiter marschiert sind auf dem camino, der auf den nächsten 12 ansteigenden kilometern immer in unmittelbarer nähe der straße verläuft. Dann komme ich zur N 540, von der ich aber gleich wieder auf eine schmale, wenig befahrene straße mit schlechter teerdecke abbiege. Hier überhole ich laufend fußpilger und muss sehr oft stürmisch klingeln, denn viele beschlagnahmen die gesamte fahrbahn. Zunächst steigt der weg noch etwa 2 km an, dann verläuft er abschüssig, so dass ich trotz der schlaglöcher ohne mühe 40 km/h erreiche. Aber ich muss ständig abbremsen wegen der wanderer. Ich hoffe zwar, dass dies der beginn der 75 kilometer langen abfahrt ist, an deren ende ich in Compostela ankomme. Aber ich kann nun noch weniger daran glauben. Wenn ich mich nämlich umschaue, befinde ich mich immer noch in einer sehr bergigen landschaft. Der camino verläuft hier auf und ab durch viele kleine weiler und gehöfte, die alle von sattgrünen wiesen umgeben sind, auf denen schafe, ziegen, manchmal auch esel weiden.
In Ligonde an der ‚fuente del peregrinos‘ – anscheinend eine natürliche wasserquelle – unterhält eine gößere internationale gemeinschaft junger leute eine pilgerherberge, in der man nicht nur kostenlos die nacht verbringen, sondern sich auch tagsüber an tee, milch oder wasser erfrischen, aber auch von reichlich bestückten regalen gebetsbücher, psalmenhefte, ansichtskarten und sogar cassetten mit meditativer musik gegen eine freiwillige spende oder auch kostenlos mitnehmen kann. Auch ich trinke dort eine tasse tee und lese in einem büchlein. Mit den texten kann ich wenig anfangen. Aber das liegt wohl auch daran, dass ich hier wieder das gefühl habe, gast einer sektenartigen gemeinschaft zu sein. Mag sein, ich täusche mich. Aber ich frage mich, woher die jungen leute die mittel haben, um all diese publikationen zu finanzieren. Vielleicht handelt es sich ja doch um eine kirchliche einrichtung, obwohl nirgendwo ein geistlicher zu entdecken ist oder ein hinweis auf eine kirchliche institution.
Um die mittagszeit komme ich in Palas de Rei an. Vor allen geschäften, auf allen öffentlichen plätzen, selbst in hauseingängen und vorgärten lagern hunderte meist jugendlicher pilger. Ich kaufe neues obst und radele weiter. 15 kilometer steigungen und gefäll-strecken, manche abrupt und steil, einige gar gefährlich, lassen mich vom fußweg zurückkehren auf die C 535, die gut zu fahren ist, aber viel hügeliger verläuft, als ich das nach der darstellung des strecken-profils in dem radwanderführer erwarten durfte. Die lange abfahrt verwandelt sich zum wunschtraum.
In Melide – auch voller pilger – möchte ich die kleine romanische San Pedro-kirche fotografieren. Aber jetzt transportiert mein fotoapparat den film überhaupt nicht mehr weiter. Ich kaufe noch neue batterien und einen neuen film, jedoch ohne erfolg. Das ding hat seinen geist aufgegeben. Santiago meint es heute nicht gut mit mir: schloss weg, kamera kaputt und statt langer talfahrt stecke ich zwischen Melide und Arzua in einer achterbahn. Auf 13 kilometern rolle ich fünfmal runter in ein fluss- oder bachtal, muss aber auch fünfmal wieder rausklettern.
Zum glück sind hier nicht nur viele wanderer auf der strecke, sondern auch viele radler. Das motiviert den prahlhans in mir zu zeigen, was er kann. Ich überhole nicht nur die beiden naiven flämischen rad-läuferinnen, mit denen ich mich länger unterhalte, weil sie alles mögliche wissen wollen und sich total uninformiert geben, sondern alle, die ich vor mir sehe; vor allem spanische mountainbiker-gruppen ohne gepäck, die zwar sehr sportlich aussehen, aber doch keine geübten radfahrer sind. Im berg kann ich länger im stehen fahren und dabei ein/zwei zähne schwerer treten als diese poppigen jungs und mädchen auf ihren fullys. Das geht mir altem angeber natürlich runter wie öl.
Aber in anstiegen, in denen ich alleine bin, schaffe ich auch nur 12 km/h. Alles eine frage der motivation. Die letzten kilometer auf der N 547 wollen kein ende nehmen. Der verkehr ist nur unwesentlich stärker geworden, obwohl ich keine 20 kilometer mehr vom flughafen Santiagos und den großen tv-stationen des spanischen und des galicischen fernsehens entfernt bin. Das letzte teilstück will ich unbedingt auf dem echten camino zurücklegen, damit ich besser nachempfinden kann, was in den pilgern vorgeht, wenn sie zum erstenmal auf das langersehnte ziel ihrer pilgerreise schauen.
Also biege ich bei Amenal ab auf den teilweise unbefestigten, aber gut zu fahrenden pfad, der immer wieder ansteigt und abfällt. Die steigung bei Labacolla, wo ich das rinnsal überquere, in dem sich die mittelalterlichen pilger vor erreichen Compostelas traditionell noch einmal wuschen, ist so steil wie auch die asphaltierte Straße nach Villamaio, dass ich alle kräfte zusammen reißen muss, um zu vehindern, dass ich nochmal das kleinste kettenblatt auflegen muss. Jetzt sehe ich die sendemasten und gebäude der erwähnten fernsehsender und gleich danach komme ich auf den ‚Monto Gozo‘, den berg der freude, den letzten hügel vor Compostela an, von dem aus man die türme der kathedrale schon sehen kann. Auf diesem berg hat man in neuester zeit einen weitläufigen gebäudekomplex als europäisches zentrum für pilgertum errichtet, in dem auch eine neue pilgerherberge mit immenser bettenkapazität untergebracht ist, aber auch konferenzräume, sportanlagen, eine bibliothek und eine große mensa. Die vielen einfachen modern gehaltenen gebäude unter dem alles überragenden riesigen denkmal auf dem höchsten punkt des berges passen nicht so recht in das historische bild der letzten kilometer.
Ohnehin bin ich hier oben sowohl von der aussicht auf Compostela wie auch von der stadtansicht selbst enttäuscht. Am meisten aber von meinen eigenen gefühlen: keine jubelstimmung, kein hochgefühl, weder tiefe, noch stille freude, schon gar keine freudentränen, die sonst bei mir so schnell rinnen. Selbst der mich oft störende stolz auf meine leistung kommt nicht auf. Ich kann nur vermuten, woran das liegt: Kann ich mich nicht richtig freuen, weil der ort bisher so wenig reizvoll ist, ich schon zu lange unterwegs bin? Ist die route zu schwer, bin ich doch zu angespannt, habe ich mich schon zu lange mit dem ziel beschäftigt? Oder möchte ich gar nicht am ziel sein? Spielt das ziel nur eine untergeordnete rolle, weil mir wichtiger war, unterwegs zu sein als anzukommen?
Auf den letzten vier kilometern in die stadt erwarte ich, dass ich dort mehr empfinden werde, emotionaler reagiere als bisher. Die ersten innerstädtischen kilometer gefallen mir überhaupt nicht: Viel zu viel verkehr, unansehnliche betriebsgebäude, schlechter straßenbelag, unzureichende beschilderung. An der Puerta del Camino finde ich nur einbahnstraßen, die aus der stadt führen. Zum wiederholten mal fühle ich mich heute nicht willkommen von/in Santiago. Als ich nach einem letzten anstieg endlich die fußgängerzone der altstadt erreiche, ahne ich aber wie prächtig, eindrucksvoll und lebendig diese stadt ist. Die Praza de Cervantes mit ihrem lebhaften studentischen treiben in den hübschen lokalen hinter alten granitfassaden vermittelt die gelungene verbindung von tradition und moderne dieser stadt.
Dann die Praza do Obradoiro! Dieses weite strenge rechteck, das von vier so unterschiedlichen, aber imposanten gebäuden eingefasst ist, von denen die kathedrale alle beherrscht. Zuerst vermittelt der platz solch eine monumentale wucht, dass ich mir klein und verloren vorkomme trotz der vielen menschen, die hier herum schlendern.
Aber als nach einigen minuten die pracht der vier den platz umgebenden gebäude auf mich zu wirken beginnt, kommt ein wenig der mir so wichtigen rührung auf. In den bunten klamotten mit meinem bepackten rad an der hand stehe ich auf einem der schönsten plätze der welt. 2000 kilometer von zu hause, 2350 km genau, die ich – mit gottes hilfe – allein aus eigener kraft zurück legen konnte, auf denen ich keinerlei probleme, nicht mal einen platten hatte. Immer wieder konnte ich ungewöhnliche gastfreundschaft, zuvorkommende hilfsbereitschaft, lebendige gemeinschaft, ursprüngliches vertrauen, naiven, aber auch tiefen glauben und ansteckende freude erleben. Dankbar und glücklich bin ich, da ich geschafft habe, was ich so lange geplant und wofür ich so tüchtig gestrampelt habe. Nun kann ich gelöst und zufrieden in mich hinein lächeln: Ich bin in Santiago de Compostela. Aber bei allem stolz und glück, das mich erfüllt, spüre ich, die ankunft in dem so lange angestrebten ort bringt mir trotz all seiner ausstrahlung und pracht nicht die erwartete erfüllung. Ich empfinde nicht so, als hätte ich mein großes ziel erreicht. Mir wird bewusst, was ich auf dem Monto Gozo schon ahnte: der weg war das ziel.