Queenstown
Der Höhepunkt meiner Neuseelandreise steht wohl nicht an, aber ihr höchster Punkt. Das Wetter scheint nicht mit zu spielen. Im Fernsehen wird für den Norden der Südinsel vor einem Orkan gewarnt. Auf der ganzen Insel ist bis einschließlich Mittwoch mit starken Regenfällen, Überschwemmungen und Stürmen zu rechnen. Superaussichten für eine Radtour über die Crown Range Road, der höchsten asfaltierten Passstraße Neuseelands.
Einen älteren Farmer, der Schafen ein Gatter öffnet, frag ich, wie wohl das Wetter heute da oben wird. Er guckt in den Himmel und meint skeptisch: „Little bit wet, but not so bad.“ Klar, dass er mir Mut machen will. Es ist fast trocken, als ich aufbreche. Mit mir ein eher schweigsamer Engländer, der noch kurz Proviant kaufen will. Er wird mich bestimmt nachher einholen.
Nach dem 10%er aus der Stadt heraus, läuft es bestimmt eine Stunde angenehm wellig rauf und runter. Dann lange gemächlich hoch.
Die Crown Range ist kein Highway. Aber um dieses autolose Foto zu knipsen, brauche ich mehrere Anläufe. Mit so viel Verkehr hab ich hier oben nicht gerechnet.
Den Cardrona Fluss/Bach immer neben mir, in den ab und zu kleinere Rinnsale plätschern.
Am ‚Destillery & Museum‘ bremse ich etwas ungläubig. Ein besonders dekorativer Zaun. Kunstprojekt oder eyecatcher für den Schnapsverkauf?
An einem alten Hotel habe ich fast die Hälfte geschafft. Ich bin ungefähr 500m hoch und ca. 25 km gefahren. Wie mutig das englische Ehepaar gewesen sein muss, nur drei Jahre nach der ersten Überquerung dieses Passes durch Europäer hier eine Poststation zu eröffnen.
Neben dem Hotel nicht nur eine alte Benzin-Zapfsäule und die ehemalige Poststation, sondern auch ein altes Schulhaus. Eine junge Frau verkauft darin neuseeländische Textilien und Andenken.
Beim Long Black kommt auch der Engländer in die Gaststube, nimmt einen Tee und erzählt, dass er seine Neuseelandreise in vier statt der angenommenen sechs Wochen runter gespult habe. Deswegen fährt er jetzt noch mal besonders schöne Strecken, bevor er nach Hause fliegt. Als ich wieder aufbreche bleibt er sitzen, lächelt ein wenig süffisant und meint treffend: ‚See you!‘
Überraschender Weise geht es jetzt wieder einige Kilometer mehr runter als rauf. Doch dann fängt der anstrengende Aufstieg an. Mehrmals bis zu 13% steil, nicht mehr unter 7 % auf geschätzten 3 km.
Da komm ich ganz schön ins Schnauben. Bin ich froh, als ich den Wind spüre vor der Kuppe und dann das Denkmal sehe.
Welch eine Tiefe! Das Kawarau Tal mit dem Hayes Lake und der highway 6 liegen bestimmt 400 m unter mir.
Und welch eine Abfahrt vor mir.
Von dieser Seite wäre ich nicht hoch gekommen.
Sie ist viel steiler und kurvenreicher. Runter einfach laufen lassen ist mir zu gefährlich. Auch weil in beiden Richtungen viele Autos unterwegs sind. Ich ziehe mir ein wärmes Trikot und eine Windweste über. Trotz des kalten Fahrtwindes ist es ein Genuss von dieser Höhe in solch ein Tal runter zu fahren.
Gezählt hab ich sie nicht. Aber bestimmt sind es zwanzig oft sehr enge Kurven, vor denen ich stark runter bremsen muss. Immer wieder kann ich auch mal ein gerades Stück ohne zu bremsen rollen. Doch rasch wird mir das zu schnell.
An einer Aussichtstelle entdecke ich Paraglider, die hier starten. Zwanzig km muss ich noch bis Queenstown, doch die ersten Abenteurer sind schon da. Und der Engländer saust hier auch an mir vorbei.
„Global Adventure Capital“ nennt Queenstown sich. In diese überaus lebhafte Stadt am Wakapitu See kommen meist junge Besucher, um verrückte Dinge zu tun, die sie noch nie gemacht haben und wahrscheinlich so oft nicht mehr machen werden. Was vor über 20 Jahren mit Bungeesprüngen für ein paar Waghalsige angefangen hat, sind heute Attraktionen für Hunderttsusende pro Jahr. Die Liste der Abenteuerangebote wird immer länger, die Zahl der Anbieter immer größer und deren Ideen immer ausgefallener und kostspieliger. Vom ‚Herr der Ringe‘ Tagesausflug bis zu Skydiven ist für jeden Geschmack etwas möglich.
Für mich Radfahrer z. B. : Helikopterflug über die Gletscher des Mount Cook. Danach von Cook Village ‚down hill‘ mit dem Leih-MTB auf den A2O-Trail. Mich mehrere Tage – je nachdem wie schnell ich radle – in schicken Lodges, auf Weingütern mit Weinproben oder auf Farmen mir saftigen Steaks am Barbecue verwöhnen lassen. Morgens nach üppigem aber gesundem Frühstück wieder weiter. Natürlich nur mit daypack am Rad. Meine Abendgarderobe bringt der Gepäckservice mir hinterher. Am Pazifik in einem Spa-Wellness-Hotel schließlich entspannen im Hot Pool von der anstrengenden Tour. So geht Radreise ab Queenstown. Natürlich bei strahlendem Sonnenschein.
Meine Realität sieht ganz anders aus. Es ist kalt geworden am Abend. Durch Queenstown schlendern hunderte in Regenkleidung oder Fleece-Jacken gehüllte Touristen. Die Straßen sind verstopft, die Fußgängerzone voll, die Restaurants besetzt, die Terrassen regennass und leer. Vor Fastfood-Läden lange Schlangen. Überall lese ich „No vacancy“. Immer wieder höre ich „Nothing available“. Im i-site stelle ich mich ziemlich mutlos an. Nicht einmal die Campingplätze hätten etwas frei, meint die Dame, als ich endlich an der Reihe bin. Ins 20 km entfernte Glenorchy am nördlichen Ende des Wakapitu See soll ich fahren. Mit dem Rad komme ich da heut Abend niemals mehr hin.
Mein Garmin zeigt mir in 480 m Entfernung den nächsten Campingplatz an. Natürlich auf einem Hügel. Den schaff ich noch. Die junge Chinesin am Empfang meint, sie seien total ausgebucht. Ich beschreibe ihr, woher ich heute komme – was ihr sowieso nichts sagt – und wie müde ich bin. Ihre freundlichere brünette, grünäugige Kollegin schaut zu mir rüber und nickt der Chinesin aufmunternd zu. Mir sagt sie, sie hielten für Notfälle immer noch Plätze frei. Wenn ich bereit wäre, 55 $ zu zahlen, könnte ich auf den Stellplatz Nr. 120 in der hinteren Reihe der Wohnmobile mein Zelt aufschlagen. Unverschämt, denke ich! ‚Notfälle‘ und dann solchen Wucherpreis! Hab ich eine andere Chance? Nicht mehr lange überlegen! Ich zahle, fahre in die hinterste Ecke und fang an aufzubauen. Im Nieselregen unter dunklen Wolken bei kaltem Wind. Stinkwütend auf dieses Queenstown und die scheißfreundliche Rezeptionistin.
„Ischt des die 120 ?, fragt jemand hinter mir mit pfälzischem Akzent. Ich bejahe und denke schon, da wäre was schief gelaufen. „Hast du was dagegen, wenn wir uns den Platz teilen? Ich hab nur ein kleines Zelt. Die Dame am Empfang hat das vorgeschlagen. Sie hat mir hier deinen Namen aufgeschrieben. Du kannst dir dann an der Rezeption 25 $ holen. Ich hab 30 bezahlt. Brauchst du auch nur zahlen.“ Karl aus Bad Kreuznach, seit dem 20. September ’17 zu Fuß in Neuseeland unterwegs, ist vielleicht noch froher als ich, auf diese Weise einen Schlafplatz gefunden zu haben.
Als ich später in die Rezeption komme, ist die Chinesin wieder frei. Ich zeig ihr Karls Zettel. Sie weiß nichts damit anzufangen. Die Brünette hört das und sagt, sie hätte das geschrieben. Ich solle eben warten. Dann erzählt sie, Karl hätte nur fünf Minuten nach mir um einen Platz gebettelt. Er habe ihr so leid getan. Da wäre sie auf die Idee mit dem geteilten Platz gekommen. Ihre grünen Augen strahlen froh, als ich mich bei ihr steif in meinem miesen Englisch bedanke. Sag noch einer, in Queenstown ginge es nur ums Geschäft.