PRINZEN TAGE

Elvira hat auf einer Party den tipp bekommen: Prinzeninseln im Marmarameer. Büyükada, Heybeliada, und noch zwei andere: klein, autofrei, also fahrradfreundlich und beschaulich.

Schon die fährüberfahrt auf dem sonnendeck eines kleinen qualmenden dampfers, auf dessen bug ich mein vollbeladenes rad ohne jede sicherung abstellen muss, verläuft so gemütlich  – mit tee und gebäck –  und doch so spektaktulär. Die  unglaubliche ausdehnung der beeindruckenden skyline von Istanbul, die meine blicke während der gesamten fahrt gefangen hält, habe ich mir nicht vorstellen können.

Solch eine große, endlos scheinende stadt, die sich über viele hügel dahinzieht! Sie deckt mit ihrer häuserlinie den gesamten backbord-horizont ab. Als ich dann noch die markante silhouette der beiden berühmten moscheen vom schiff aus erkenne, läuft mir minutenlang eine gänsehaut nach der anderen über meinen verschwitzten rücken.

Welch ein kontrast dann die ankunft auf der insel!

Seebäder nennt man solche am ende des vorletzten jahrhunderts entstandenen badeorte wohlwollend. Damals mondän, heute etwas altmodisch und in die jahre gekommen, aber gerade dadurch reizvoll. Weiße art-nouveau- oder jugendstil-villen aus holz mit floralen balkongeländern und gesimsen, blei verglasten giebeln und erkern, buntglas in türen und fenstern sind charakteristische bauten dieser im september fast verschlafen wirkenden orte. Einige herrschaftliche hotels aus den 20er jahren mit vergitterten aufzügen, plüschsofas und wintergärten beherbergen wenige ältere wohhabendere stammgäste. Zeitlose mehrstöckige sommerhäuser mit riesigen palmengärten, bougainvilla sträuchern und weißen schmiedeeisernen toren sind im besitz reicher (kauf-)leute aus der nahen metropole Istanbul oder dem ausland, hier meist griechenland.

Dazwischen immer wieder völlig zerfallene villen, ruinen ehemaligen reichtums. Aber auch einige sträßchen mit schmalen fischer- und handwerkerhäuschen, die eng, vollgestopft mit menschen und geräten, ärmlich und oft schadhaft scheinen.

Das leben eines gastes in so einem seebad  – als „tourist“ wird hier niemand angesehen – ist besonders in der nachsaison völlig relaxed und erholsam. Das brauche ich jetzt. Bis meine „frauen“ kommen, genieße ich drei tage auf den Prinzeninseln.

Prinzeninseln nennt man sie, weil im byzantinischen reich die jeweiligen machthaber widerspenstige oder machtgierige prinzen, prinzessinnen und andere unliebsame adlige hierhin ins exil schickten. Damals waren sie noch kaum bewohnt. Nur einige klöster mit mönchen gab es.

Zuerst fahre ich nach Büyükada, der größten insel: zwei hügel, ein rundkurs 12 km, drei schöne kleine strände, ein marktflecken, in dem sich das seebad-leben abspielt. Überall pferdekutschen, dreirädrigere lastkarren zum ziehen und fahrräder, manche mit angeschraubten schwerlastgepäckträgern. Vier alteingesessene hotels, zwei pensionen – eine neue, leider geschlossen. Die andere in einer ehemals sehenswerten villa, der aber seit jahrzehnten jeder unterhalt vorenthalten wurde, wird mein quartier. Das treppenhaus inklusive mobiliar stammt aus der jahrhundertwende. Aber die grüntöne schreien miteinander. Die kunststoff-rollenware auf der ersten geschosstreppe ist völlig abgetreten, klebt aber leider noch über den dunkelbraunen dielen. Mein zimmer hat nur ein kaltwasser-waschbecken. Auf dem flur duftet frisch die toilette für alle vier zimmer der zweiten etage. Duschen oder baden kann man auf dieser etage nicht. Mein holzbalkon, vor dessen betreten ich erst die dielen durch kräftiges stampfen auf tragfähigkeit teste, bietet freie sicht auf Istanbuls skyline. In der dunkelheit wirkt das lichtermeer der stadt wie eine nahe, flache milchstraße. Unendlich und großartig!

Bummeln durch den ort, schiffe und leute gucken im hafen, mit dem rad an den ruhigen pensionärs- strand, schwimmen, tee auf der caféterrasse, türkische allerweltsausdrücke lernen, dorade als abendessen, pistazien-walnuss-aprikosen-gebäck als dessert. Bier gibt’s sogar.

Einige badegäste begrüßen mich am zweiten morgen fast wie einen alten bekannten. Ich hab gestern ja auch hier mein rad abgestellt und geschwommen. Wenn ich schwimmen gehe, passt Ercan auf mein rad auf. Ein schlanker etwa 50 jähriger braungebrannter händler in badehose, der alle 30 minuten mal kurz ins meer hopst und dann wieder zu seinem hölzernen handkarren zurückkehrt, der voller badehosen, -anzüge, bikinis, axelshirts, shorts und kinder-sommerkleidung liegt. Sein zweites geschäft ist das vermieten fünf älterer, verblichener sonnenschirme, die er in den rasen der parkanlage eingesteckt hat, in der er sein improvisiertes strandbad eingebürgert hat. Zusätzlich zu den schirmen verteilt er an seine kundschaft noch große, plattgelegene pappkartons als matraze oder badetuch-unterlage.

Die parkecke hier ist sein stammquartier. Jeden tag verkauft er hier bis abends um sieben. Er kennt hier alles und jeden. Heute bietet er mir einen schirm und eine pappe zum sondertarif an. Ich bleibe aber auf der parkbank. Er bleibt trotzdem freundlich und schmiert mir den rücken ein, als er sieht, dass ich – ziemlich steif – das nicht mehr hinkriege. An meinem voll beladenen rad sieht er wohl, dass ich auch ein zelt mit habe. Beharrlich lädt er mich ein, hier auf seinem rasen heute nacht zu kampieren. Das wäre völlig problemlos. Niemand käme niemand und ich würde auch niemanden stören. Als ich ihm vom café einen tee mitbringe, muss ich mit an seinen karren und zehn kreuzchen machen auf einem wetttschein für pferderennen. Auch als ich ablehnen, weil ich davon doch nichts verstehe, besteht er darauf: „Kismet“! Dann erzählt er, dass er einmal eine russische lady hätte ankreuzen lassen und für 30 lira wetteinsatz umgerechnet 1000 dollar gewonnen hätte. Leider werde ich nie erfahren, ob ich ihm auch so viel glück gebracht habe. Am nachmittag nehme ich die fähre zur kleineren insel Heybeliada.
Sie wirkt noch bescheidener als ihre etwas reichere schwester. Nur die kommandos und stechschritte der exerzierenden offiziersanwärter in ihren weißen uniformen auf dem abgesperrten platz vor dem marine-stützpunkt stören das ansonsten friedliche inselleben. Überall liegen hunde und katzen verschlafen auf den straßen und plätzen. Die pferdekutscher haben kaum ewas zu tun. Nur wenn ein fährschiff einläuft, wird’s für ein paar minuten an der anlegestelle etwas lauter. Aufregung gibt’s am abend, als ein pferd – nur mit einem strick angebunden – auf ein schiff verladen wird, das aber nur widerspenstig mitmacht.

In der pension Özdemir bekomme ich ein einfaches zimmer mit bad. Mich und mein fahrrad kann ich hier mal gründlich pflegen. Dann ruhe ich mich noch einen abend
und eine nacht aus vor den anstehenden besuchen von Elvira und Sara und der zu erwartenden hektik in der 12 millionen stadt Istanbul.