Keine Klagen

Riga, 17. 08. 2014

Viel zu oft schreibe ich über Geld, Tagesbudget, hohe Preise, Durchschnittskosten. Wer lange unterwegs sein will, muss genug Geld mitnehmen oder sich einschränken. Da brauche ich nicht über Bier- oder Zimmerpreise zu stöhnen.

Gegenwind und schlechte Straßen schreibe ich auch oft.Wer mit dem Rad sowohl in Großstädte als auch in abgelegene Regionen will, muss Gefährdungen und Unbequemlichkeiten in Kauf nehmen. Da kann ich nicht über volle Campingplätze oder hohe Bordsteine lamentieren.

Seit Montag regnet es jeden Tag. Mehrere Stunden leicht und am Nachmittag mindestens einmal richtig stark. Abends und nachts gewittert es und schüttet richtig. Da kann ich mich doch jetzt nach dem tollen Wetter in den letzten drei Wochen nicht beklagen.

Morgens steige ich auch in dieser Woche guten Mutes auf. Am Vormittag sind die Wolken noch ganz weiß. Die Sonne scheint immer wieder durch. Jeden Tag denke ich, heute könnte es trocken bleiben.

Meine Jacke hält dem Regen stundenlang stand. Mein Oberkörper bleibt trocken. Wenn ich nicht  so kräftig in die Pedale trete, schwitze ich auch in der Jacke nicht  so sehr. Wenn ich mich anstrenge, triefe ich sofort. Die Sattel- und die Gepäcktasche auf dem Träger halten Spritzwasser zurück. Der Po bleibt weitgehend trocken. Kopf, Beine und Füße werden sowieso nass. Kapuze, Überschuhe und Regenhose ziehe ich nicht an, so lang es noch warm ist. Ich fahre im Regen mit kurzer Radhose und barfuß in Tevas. Bei Pausen oder am Ziel wechsele ich die Hose, trockene die Füße und Sandalen mit Papiertüchern  – fertig. Kein Grund zu klagen.

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Saaremaa ist im Regen deutlich weniger attraktiv als bei Sonnenschein. Das ist aber nicht nur auf dieser kleinen Insel so. Aber ihre Highlights sind die Strände, ist die Küste. Von meiner Regentour an die schönen aber heute grau-verregneten Strände an der Südspitze  bei Järve komme ich rasch wieder zurück nach Kuressaare. Der Ort hat einiges zu bieten, aber ich hab gestern schon viel gesehen. Heimat- oder Freilichtmuseen sind für jemanden, der x-mal mit Schulklassen in Bokrijk oder Kommern war, nicht anziehend. Estnisches Kunsthandwerk – so witzig die hölzernen Steckenpferde auch aussehen – schaue ich mir auch bei Regen nicht mit Interesse an. Zurück ins Zelt lesen und schreiben. Ich weiß heute zwar nicht worüber, aber auch das ist kein Grund Trübsal zu blasen.

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Mein Zelt ist standfest und lässt keinen Regen durch. Nach der ersten Gewitternacht hab ich es nass einpacken müssen. Mittwochabend hab ich dann in einer Hütte geschlafen und darin das Zelt  zum Trocknen ausgebreitet. Die Hütte war nicht beheizt. Das Zelt am Donnerstagmorgen dennoch trocken. Das Innenzelt ist ohnehin immer trocken geblieben.

Im Zelt schlafe ich, gerade wenn es so plästert, am liebsten. Das ist ein zufrieden stellendes Gefühl der Geborgenheit, wenn um es um mich herum weht und stürmt, dicke Tropfen aufs Zelt trommeln, Pfützen und kleine Rinnen ums Zelt herum voll laufen, ich im Zelt aber warm und trocken liege.

Wenn ich Route und Dauer mseiner Reise nicht festlegen mag, spontan bleiben oder weiter fahren will, dann muss ich nicht unbedingt durch den Regen radeln. Um eine Möglichkeit per Schiff nach Lettland zu kommen, will ich mich kümmern. Im Hafen treffe ich einen coolen Seemann – so sieht er zumindest aus in seinem dunkelblauen Troyer, der fettigen Kappe, dem rauhen Bart und dem Ohrring. Er sieht nur eine Chance für mich: Am Samstagmorgen fände ein kleines privates Segel-Rennen statt. Höchstens 10 größere Boote. Kurresaare – Ventspils und zurück. Wenn ich früh morgens rechtzeitig vor dem Start mit den Skippern rede, wäre vielleicht einer bereit, mich und das Rad mitzunehmen. Klar sei ich zusätzlicher Ballast. Aber die 120 kg würden so ein Boot nicht spürbar langsamer machen. Je nach Wind und Können der Segler kämen sie am Nachmittag in Lettland an. Zurück würden sie erst am Sonntag segeln, wieder als Rennen.

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Während er noch spricht, sieht er mir an, dass ich Schiss habe. Wenn ich Angst vor Seekrankheit hätte, solle ich morgens ein, zwei „Schnaps“ (sagt er wörtlich) trinken. Seekrankheit käme aus dem Ohr, vom Gleichgewichtsorgan. Alkohol würde helfen. Er will gleich einen der beteiligten Wettsegler anrufen. Vorher gestehe ich ihm, dass ich niemals sechs oder noch mehr Stunden auf einer Yacht bei möglicherweise recht stürmischer See überleben würde, ganz zu schweigen von meiner Sorge um mein Rad und Gepäck. Er lacht mich aus und meint, so ein „village-race“ sei doch nicht gefährlich.

Jetzt steht’s fest: ich muss zurück nach Lettland radeln. Aber auch das ist kein Grund zu klagen. Das wusste ich eigentlich schon, als ich las, dass der Fährbetrieb nach Ventspils eingestellt wurde. Ein junges deutsches Pärchen, auch Radfahrer, die letzte Nacht auf dem gleichen privaten Gelände in Kurresaare zelteten wie ich, warten im Hafencafé auf die Fähre nach Ruhnu. Das ist eine estnische kleine Insel in der Rigaer Bucht. Von dort aus können sie anschließend nach Pärnu eine weitere Fähre nehmen. Die beiden Touren dauern zusammen etwa vier Stunden und kosten 20 und 16 € pro Passagier.

Mir helfen diese Fähren nicht. Den Ostseeküstenradweg zwischen Saaremaa und Pärnu kenne ich noch nicht. Er führt – wie die Augsburger mir versichern – total entspannt durch ein riesiges Waldgebiet über eine gute, verkehrsarme Straße. Allerdings sieht man das Meer nur selten, da die Straße zwei drei Kilometer landeinwärts verläuft.

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Am Freitag fange ich mit meinem eigentlichen Rückweg an. Auf einem nördlichen Bogen fahre ich zum Meteoriten-Krater von Kaali und den Windwühlen von Angla. Beide ‚Attraktionen‘ find ich nicht umwerfend. Aber an der kleinen Kirche von Karja aus dem 14. Jahrhundert finde ich eine Kreuzigungsszene in der Außenwand, die mich fasziniert. Den Mündern der beiden neben Jesus gekreuzigten entweichen zwei unterschiedliche Wesen, die wiederum empfangen oder mitgenommen werden von darüber schwebenden Engeln ebenfalls verschiedenen Charakters. Bildhaft dargestellt ist so die Aufnahme des reuigen Sünders in den Himmel und die Verdammnis des anderen. Ein 600 Jahre alter „Comic mit Sprechblasen“.

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(Nachtrag vom 20. 8.: Gerade erst, fünf Tage später, entdecke ich, dass Karja Kirik und dieses Relief auch im Lonely Planet beschrieben werden. Ich bin wirklich zufällig dort vorbei gekommen. Egal, es bleibt ein Juwel.)

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Die Sonnenblumen hinter dem Zaun, die bemooste Mauer oder auch ein Zieh-Brunnen vor dem kleinen Haus. Das sind reizvolle Motive, die Saaremaa auch an einem Regentag zu bieten hat. Abends schlafe ich wieder in Liiva, nehme aber ein Bett in einer der Hütten, weil es wieder derart gießt.

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Nach der kurzen Fährüberfahrt radle ich am Samstagmorgen gerne an der Westküste Erstlands runter nach Pärnu. Über den  EuroVelo 10 sind es 110 km. Nur Wald oder Wiesen.So eine schöne, ruhige Straße so lange zu fahren ist, auch wenn’s mal nieselt, das reine Radlerglück.

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Bei Matsi komme ich in eine abgelegene, lang gezogene Bucht, die bis zu einem Leuchtturm reicht. Am Strand ein kurzer Bootssteg, ein größeres rotbraunes Holzhaus, ein Tippi aus Holz und ältere graue Hütten. Auf der Wiese und im Waldstück daneben zelten mehrere Familien. Einige Jungen spielen mit einem jungen Hund. Zwei Mädchen sitzen mit ihren Puppen unter den Kiefern und füttern sie mit Brombeeren. Wenn hier die Sonne scheinen würde…

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Vier Kilometer ist der Weg in der Bucht nicht asphaltiert, aber gut befahrbar. Dann bin ich wieder auf der Straße. In einer kleinen Dorfkneipe, deren Besitzer lebt anscheinend seine große Sammelleidenschaft hinter der Theke aus, esse ich Pommes mit Spiegelei – es gibt sonst nur Suppe oder Burger.

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Um fünf erreiche ich Pärnu. Bei dem in dieser Woche obligatorischen nachmittäglichen Gewitterregen kann ich mich vor einem Supermarkt unterstellen. Trotz der Nässe hab ich mich damit abgefunden, in Pärnu noch einmal auf dem nicht sehr angenehmen City-Caravaning-Platz zu zelten. Vorher will ich nur kurz am Busbahnhof informieren, wann und wie oft morgen ein Bus nach Riga fährt.

Denn die 175 km radle ich nicht wiedere zurück. Zwar würde ich gerne noch mal bei Janis campen. Das Stück von Saulkrasti bis Salacgriva am Meer entlang ist wirklich schön. Doch die Fernstraße von Pärnu Richtung Grenze und die Alternative vor Riga – langer Umweg über die eklige A 1 oder die Sucherei im Wald mit der Eisenbahnbrücke, die ich zu Fuß im Schotterbett überqueren musste, –  das tue ich mir kein zweites Mal an.

Die Dame im Busbahnhof sagt mir, dass ich um zehn vor sechs noch einen Bus nach Riga nehmen könnte. Ich solle an Steig 8 warten und den Fahrer fragen, ob er genügend Gepäckraum frei hat. Das Ticket soll ich erst kaufen, wenn ich auch wirklich mitgenommen werde.

An Steig 8 warten fünf Fahrgäste mit normalem Gepäck und vier BMX-Biker, die ihre Rädchen gerade in schwarze Plastiksäcke einpacken und zukleben. Sie wollen auch nach Riga und haben neben ihren Koffern noch eine Filmausrüstung mit Kameras und Stativ dabei. Sie kommen aus London, Irland und Lettland. Von Ihren „Auftritten“ in den verschiedenen Städten Europas drehen sie einen Film.

Der Bus wird ohne mich fahren, denke ich gleich, so schön es auch gewesen wäre. Die Jungs aber meinen, ich solle schon mal mein Rad ein bisschen zusammen legen und dann könne ich ja noch mal mit dem Fahrer reden. Der Bus kommt pünktlich aus Tallinn. Nicht nur die meisten Plätze sind besetzt, auch in die vollgestopften Kofferräume auf der Bussteigseite können nur noch zwei ältere Passagiere ihre Koffer abstellen, weil zwei Reisende, die in Pärnu bleiben, ihre Taschen raus nehmen. Auf der anderen Busseite können die Jungs ihr Gepäck weit in die Mitte durchschieben und ihre Rad-Säcke davor nebeneinander abstellen. Die Filmausrüstung nehmen sie mit in den Bus.

Hilflos stehe ich mit meinem Rad in der Hand daneben. Der Busfahrer zuckt die Achseln und schüttelt verneinend den Kopf. „I’ll take the bus tomorrow mornig“, sag ich schon, als der Ire widerspricht. Ich könne das Rad doch flach auf ihre bikes legen, meint er. Er packt am umgedrehten Lenker an, ich hinten am Gepäckträger und schwupps liegt das Rad auf den schwarzen Säcken. Meine Ortliebtaschen drücken wir noch irgendwo dazwischen. Der Fahrer schließt die Klappen. Ich zahle 13 € und steige zweieinhalb Stunden später am Rigaer Busbahnhof aus. Dass das so gut geklappt hat!

Von dort sind’s drei Kilometer bis zum Campingplatz. Im Rimi kauf ich schnell ein fertiges Wok-Gericht mit Nudeln und das Cesu-Bier, das ich vor drei Wochen hier so gerne getrunken habe. Auf dem Weg zum Zeltplatz bemerke ich erst die riesigen Pfützen, die Kurven, Kreuzungen und Plätze in kleine Teiche verwandeln. Hier muss es vor kurzem sehr stark geregnet haben.

Der Typ an der Camping-Rezeption sagt, als ich bezahlt habe, dass ich ja schon mal da war und er mir nichts mehr erklären müsse. Er gutes Gedächtnis, denke ich, oder ich irgendwie auffällig gewesen. Obwohl ich das Asia-Food ziemlich schnell verdrückt habe, muss ich im Dunkeln mein Zelt aufbauen. 22.15 Uhr zeigt das Handy, als ich unter die Dusche gehe. Völlig happy rolle ich mich wenig später in meinen Schlafsack ein.

Heute Morgen noch auf Muhu. 110 schöne km geradelt. Kaum nass geworden. Gleich vom ersten vollen Bus mitgenommen. Jetzt schon in Riga in meinem Zelt. Es regnet nicht. Das Feuerwerk und die Musik, die vom Rigaer Flussfest herüber dringen, stören mich nicht. Ich hab heute – wie auf dieser ganzen Reise – wirklich nicht zu klagen.