Himmel hoch

Nida, 18. 07. 2014

Unser Lateinlehrer in der Unterstufe des Gymnasiums – Herr Surrey – war Ostpreuße, Heinrich Schliemann-Fan und erzählte gerne. Von Troja, Athen und dem Löwentor von Mykene, aber manchmal auch von der Kurischen Nehrung, wo er zuhause war. Mehr als 50 Jahre ist das her. Immer wieder hab ich mich erinnert und gedacht, diesen schmalen Landstrich in der Ostsee möchte ich einmal besuchen.

Heute ist es soweit. Von Kaliningrad sind es gerade mal 30 km bis Zelenogradsk (Cranz), „der Badewanne Königsbergs“ bis zum 2. Weltkrieg, dem Tor zum Nationalpark „Kurische Nehrung“. Entlang der vielbefahrenen 191 (!!!) aus Kaliningrad raus nehme ich den Bürgersteig, Welch eine Holperstrecke. Dann wird die 191 zur A 191 und ist für Fahrräder gesperrt. Genau an der Abzweigung sitzt ein Polizist im Streifenwagen. Ich frage ihn: „Zelenogradsk?“ Er zeigt stumm gerade aus auf die Autobahn. Also fahre ich die 25 km nachpolizeilicher Anweisung auf dem Pannenstreifen. Heute nur wenig Gegenwind. Ca. 1 km vor dem Ortseingang dann der erste Radweg in Russland. Der ist mir auch ein Foto wert.

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Zelenogradsk – früher ein beliebtes Ostseebad – wird  auch jetzt wieder zunehmend von russischen Touristen besucht, nachdem jahrzehntelang die Orte an der Küste und die Nehrung selbst nur mit sowjetischer Sondergenehmigung betreten werden durften. In Zukunft – so ein Werbeprospekt – erwartet man  eine immense Steigerung der Besucherzahlen und eine rege Bautätigkeit im Bereich Ferienhaus/Hotel.

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Zum Glück ist es noch nicht so weit. Noch werden ein paar altehrwürdige Villen restauriert, wurde die Promenade mit einem neuen Edelstahlgitter auf der Seeseite modernisiert, sind Buden mit Billig-Souvenirs und Rummel zur Kinderbelustigung schon offen. Aber es ist noch leer am Strand trotz tollem Wetter. In der Nähe der zentralen Bade-Zone, wo auch mehrere Cafés und Getränkebuden geöffnet haben, ist deutlich mehr los. Aber immerhin ist hier noch einigermaßen gelassenes Sonnenbaden möglich.

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Nach wenigen Kilometern in nördlicher Richtung komme ich ans Nationalpark-Tor. Der Eintritt ist frei, Die Verhaltensregeln gibt’s auch in Englisch. Wichtigste Anweisungen: Wanderwege nicht verlasen! Dünen nicht betreten! Keine Pflanzen pflücken oder verletzen Alle anderen sind Selbstverständlichkeiten.

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Obwohl die Nehrung  an ihrer schmalsten Stelle nur 400 m breit ist, kann man nirgendwo beide Wasserseiten – Meer und Haff gleichzeitig  – sehen. Sie ist 98 km lang und damit der längste Sandstrand in Europa. Die südliche Hälfte gehört zu Russland, die nördliche zu Litauen.

Auf russischer Seite ist durch den viele Jahrzehnte währenden eigeschränkten Besucherverkehr der Besucherzustrom sehr gering. Die früheren Badeorte sind heute stille Dörfchen. Aber in allen drei Örtchen sehe ich schon, dass investiert wird in Renovierung von Ferienhäusern, Neubau von Unterkünften und Cafés.  Allerdings lassen die strengen Regeln der Nationalparkverwaltung auch keinen Spielraum für touristische „Attraktionen“, die nicht in diese erhaltenswerte Landschaft passen. Zum Glück!

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Für Radfahrer sind die 54 km auf russischer Seite im wahrsten Sinne ‚einsame‘ Spitze. Durch Kiefern- und Lärchenwald, Heidegebiete und Sümpfe, vorbei an hohen Dünen und langen weißen Sandstränden, begleitet von Vogelgezwitscher und Blütenduft unter diesem ewig weiten hohen Himmel. Blau und Weiß scheint hier unendlich.

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Hier hindurch führt eine tadellose Straße, fast ohne Autoverkehr. Alle zwei drei Kilometer gibt es zur Seeseite hin Dünenübergänge – naturbelassen, durch tiefen Sand, nur selten und nur in den letzten Metern beplankt oder durch Holztreppen besteigbar. In der Nähe dieser Strandzugänge parken die wenigen Strandbesucher ihre Autos.

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Um so überraschter bin ich, als ich bei meinem Versuch auch mal auf der Haffseite nahe ans Wasser zu kommen, auf einem Parkplatz am Ortseingang von Ribatschij mindestens zwanzig Fahrräder und einen Lieferwagen mit Fahrradanhänger und deutschem Kennzeichen entdecke. Die „Oldenburger Landpartie“ macht hier Mittagspause. Eine Radreisegruppe auf dem Weg von Danzig nach Riga. Die Radler sind guter Dinge und laden mich ein, mit zu essen, was ich gerne annehme. Eine Menge Fragen haben wir beiderseits, wobei ich wieder mal zu offen bin in meinen Auskünften, wie ich später mit Erschrecken nachfühle. Manchem bin ich wohl auch zu aufdringlich, als ich bei ihrem Start einzelne fotografiere wegen ihrer besonderen Räder. „Wir sind wohl Stars für dich?!“, höre ich vorwurfsvoll aus einem Damenmund und weiß, dass ich mich jetzt besser zurückziehe. Beim jungen Küchenchef und Mädchen für alles bedanke ich mich für den guten Fisch und den leckeren Salat. Mit dem Reiseleiter spreche ich noch kurz über die Route und Wind. Dann sind auch schon alle auf ihren Rädern. „Man sieht sich ja bestimmt in Nida“, rufen einige noch. Denn das ist unser gemeinsame Ziel heute .

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In Morskoje, dem letzten russischen Dorf vor der Grenze, kann ich erstmalig einen von mannshohem Schilf verdeckten Blick aufs Haff werfen. Dann folgt schon die Grenze. Völlig unspektakulär werde ich rasch an einem Schalter abgefertigt: Pass zeigen, anschauen lassen, Ausgangsstempel rein, kleiner Zettel  raus. Weiter fahren! Wieder kein Wort.

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Auf litauischer Seite warte ich einige Minuten zusammen mit russischer Mutter und Tochter im Kia-Van vor der roten Ampel. Die beiden fahren nur zum Duty-Free-Shop, vor dem ich sie nachher sehe. Meinen Pass muss ich dem litauischen Zöllner zeigen. Er wünscht mir: „Have a good trip!“

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Nach weiteren 4 km bin ich in Nida. Da der Ort auf der Haffseite liegt, der Campingplatz  im Kiefernwald  zwischen Ort und Düne, fahre ich erst einmal zum Strand. Ich will schwimmen. Der sieht schon ganz anders aus: Viel mehr Menschen, viel mehr Schirme, Umkleide-Kabinen von einer Telefongesellschaft gesponsert, Edelstahlbänke mit Bankirai-Bohlen, verschieden farbige Müllcontainer, Espresso-Stand neben Hotdog-Bude. Oben auf dem höchsten Punkt des Strandzugangs thront das Café mit Außenterrasse, Meerblick, Fahrradständern, WC , Bierausschank und Fastfood- Speisekarte. Ich bin wieder in der EU! Willkommen im Tourismus-Reich. Aber der hohe weite Himmel bleibt auf der ganzen Nehrung gleich.

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