Heimweh-tief

Sonntag, 09. 07.: Perigueux – La Réole

9.etappe: Perigueux – La Réole 135 km  20,0 km/h    insg. 1200 km

Welch ein besch… Tag ! Dabei fängt morgens alles so schön an:  frühstück mit den vier pastören, text ins gästebuch eingetragen, auf dem markt in Perigueux eingekauft.

Über den alten pilgerweg, der hier mit neuen messing-muscheln im pflaster gekennzeichnet ist, fahre ich zur kathedrale St. Front. Auch solo, denn um diese zeit ist hier an der kirche noch niemand. Schon von außen ist diese romanisch-byzantinische kuppelkirche eine wucht. Sie wurde auch von der Unesco zum weltkulturerbe erklärt. Schon seit vielen jahrhunderten ist sie eine der meist besuchten pilgerkirchen in Südfrankreich auf dem weg nach Santiago. Sie gilt als nachbildung der Markuskirche in Venedig, die ihrerseits die Apostelkirche von Konstantinopel zum vorbild hat. Die ursprüngliche basilika aus dem 12. und 13. jahrhundert wurde im 19. jahrhundert von dem architekten des Pariser Sacre-Coeur erneuert, wodurch sie eine fast allzu orientalische silhouettte bekam. Das schlichte innere mit dem grundriss eines griechischen kreuzes wird von fünf bis zu 38 m hohen und 25 m weiten kuppeln zeltartig überwölbt, die trotz ihrer enormen ausmaße den eindruck einer unglaublichen leichtigkeit vermitteln. Über der eingangshalle erhebt sich ein romanischer glockenturm, der aber stark beeinflusst ist vom byzantinischem baustil.

In einem der seitenschiffe finde ich die bescheidene Chapelle de St. Jacques. Als mich dort einer der für das um 9.00 uhr anstehende hochamt zuständigen priester entdeckt, fragt er, ob ich nach Santiago unterwegs sei – er habe draußen mein fahrrad gesehen – und setzt mir daraufhin in der sakristei einen weiteren stempel in meinen pilgerpass.

Weitere sehenswürdigkeiten der stadt, die ich mir an diesem ruhigen, aber immer trüber werdenden sonntag morgen anschaue, sind

  • die renaissance-häuser in der altstadt, die als unterkunft oder hotel für adlige pilgerreisende dienten, wie das ‚Maison du Patissier‘ am Place St. Louis;
  • der Tour Mataguerre, der einzig erhaltene der ehemals 28 türme der früheren stadtbefestigung, in dem im hundertjährigen krieg ein englischer gefangener 17 jahre gefangen gehalten wurde;
  • der auf einen römischen tempel zurückgehende Tour de Vesone, der bei 24 m höhe mit seinen 17 m im durchmesser unglaublich massig wirkt, trotz seiner seitlichen bresche, die einer legende nach entstanden ist, als St. Front irgendwelche dämonen mit einem fluch verjagte. Tatsächlich haben die bewohner der stadt im mittelalter die steine des turmes zum wiederaufbau zerstörter befestigungsanlagen verwendet. Zur zeit der römer bestieg man den turm über eine monumentale treppe, die von säulen gesäumt wurde. Die mauern waren innen mit marmorplatten verkleidet, die von jetzt noch sichtbaren eisenhaken gehalten wurden.

Als ich schon auf dem weg aus der stadt heraus bin, finde ich am ufer der Isle noch einige gut erhaltene und seltsam geformte fachwerkhäuser. Nach 2 km auf der D 3 erreiche ich Chancelade. Die abtei ist ausgeschildert und liegt an einem romantisch plätschernden bach. Sie ist auch romanischen ursprungs, aber nicht sonderlich gut gepflegt. Dennoch wird sie zumindest am sonntag viel besucht. Eine festlich gekleidete familie versammelt sich gerade vor dem portal. Rasch mache ich ein foto und will nicht weiter stören. Zudem habe ich heute schon genug besichtigt; ich will jetzt kilometer fressen.

Prompt fängt es an zu nieseln. Außerdem merke ich hier im tal der Isle, dass der wind wieder aus südwesten kommt. Wieder daher, wo ich hin will. Am sonntag morgen sind – genau wie bei uns – trotz des regens einige rennradfahrer unterwegs. Die meisten grüßen und rauschen an mir vorbei. Aber ein älterer radler mit einem sehr gepflegten alu-peugeot-rennrad fährt nur unwesentlich schneller als ich. Ich häng mich dran und folge ihm mit knapp 25 km/h mehrere kilometer, ohne auch nur daran zu denken, auch mal führungsarbeit zu leisten, denn ich bin ja immerhin schwer bepackt. Das scheint den netten franzosen gar nicht zu stören; denn als ich in einem anstieg neben ihn komme, nickt er mir aufmunternd zu und fängt an zu fragen: herkunft, nationalität, start- und zielort meiner tour, usw. Er selbst erzählt ungefragt, dass er aus Paris stamme, dort auch bis vor zwei jahren gearbeitet habe, aber schon seit mehr als 15 jahren hier im Perigord ein ferienhaus besitze und nun fast das ganze jahr über hier wohne, obwohl er immer noch eine wohnung in Paris habe, in der aber seine tochter lebe.

Als wir gegen 12.30 uhr Neuvic erreichen, fragt er, ob ich schon gegessen habe und lädt mich zum mittagessen bei sich zu hause ein.  Er meint, seine frau müsse unbedingt jemanden kennen lernen, der in 8 tagen mit soviel gepäck von Aachen ins Perigord radle und noch weiter wolle bis Compostela. Ich erkläre ihm dankend, dass – so gerne ich auch bei ihm zu mittag essen würde – ich auch heute 120 km schaffen möchte. Er schüttelt bedauernd, aber verständnisvoll den kopf, gibt mir die hand und wünscht mir eine gute reise.

Bei gleichbleibendem nieselregen und leichtem gegenwind komme ich im flusstal zunächst gut voran. In Mussidan habe ich einen schnitt von 22,5 km/h trotz der besichtigungen in Perigueux. Ich kaufe in einer pmu-bar einen neuen film – leider haben sie keinen dia-film – nehme ein kännchen tee und esse dabei wieder paté, brot, ziegenkäse und nektarinen. Wie immer hat’s mir gut geschmeckt.

Aber sobald ich aus dem Isle-tal heraus gestrampelt bin, spüre ich, dass ich dringend zur toilette muss. Ich schlage mich irgendwo in die büsche und stelle fest, dass ich durchfall habe. Doch zu viele nektarinen gegessen? Seinen hintern muss ein radler mit größtmöglicher sorgfalt versorgen, wenn er keine sitzbeschwerden bekommen will. Also gründlich reinigen, hose wechseln, vollkommen abtrocknen, neu einfetten. Und das alles im regen. Danach kann ich auch gleich unterhemd und trikot wechseln, denn die sind bei dem bestimmt 30minütigen aufenthalt durch und durch nass geworden.

Mir ist klar, dass ich jetzt noch viel klettern muss. Aber die straße hat einen glatten belag und kaum verkehr. Jetzt möchte ich wieder tempo machen. Aber der wind nimmt zu. Obwohl ich durch ausgedehnte wälder radle, packt der wind mich immer wieder auf den freien höhen. Ich muss richtig kämpfen.

Trotz meiner anstrengungen läuft es nicht mehr. In einem waldstück höre ich auf einmal das vertraute ‚gelächter‘ eines grünspechts. Bei uns zu hause wohnt nämlich seit jahren einer dieser auffallend gelbgrünen vögel mit rotem schwanz, den Gabriele und ich oft beobachten, wenn er in einem morschen eichenast herum hackt oder aus unserem rasen regenwürmer zieht, was er anscheinend von den amseln abgeguckt hat. Schon wieder höre ich das typische grünspecht-gegackere. Ob der mit mir fliegt? Oder komm ich so schlecht voran? Ich muss an zu hause denken, an die eichenbäume, den garten, an Gabriele, die mädchen. Wie gern wäre ich jetzt mit ihnen zusammen. Einmal umarmen, ein bisschen schmusen. Das wäre schon genug. Ich komme wirklich nicht von der stelle. Der grünspecht ruft schon wieder.

Auch auf der kurzen abfahrt ins tal der Dordogne kann ich nur mit mühe mehr als 35 km/h erzielen. Der fluss, der als der schönste Frankreichs gilt, schlängelt sich durch ein satt grünes, romantisches tal, an dessen bewaldeten hängen herrliche jugendstil-villen auf riesigen waldgrundstücken liegen. Aber in diesem grauen regenwetter wirkt der fluss trist und langweilig. Oder liegt das an meiner tristesse? In St. Foy la Grande esse ich ein zu teueres stück schokotorte und trinke tee, weil schokolade gut sein soll fürs gemüt und es jetzt kräftig regnet. Als es aufhört, suche ich das pastorat, an dem mir aber niemand aufmacht. Ich hätte gerne einen weiteren stempel bekommen. Spuren des jakobsweges finde ich nicht, obwohl der ort in allen pilgerführern als station genannt wird.

Aus dem Dordognetal heraus bin ich schon 2 km auf der sehr kleinen  D 141 geklettert, als ich wütend feststelle, dass ich in dem café meinen helm hab liegen lassen. Also zurück! Weil der anstieg über die D 141 doch ziemlich happig war, nehme ich diesmal die breitere D 708. Der anstieg ist weniger steil, der verkehr kaum stärker. Leider kann der wind besser angreifen. Eigentlich will ich an der abzweigung der 141 wieder die kleinere straße wählen. Aber als ich ihren rauhen belag und den hügeligen verlauf vergleiche mit der besser ausgebauten 708, bleibe ich doch auf dieser breiteren, hier wenig befahrenen straße, die mich nach 10 km ins departement Lot et Garonne bringt. Es regnet nicht mehr, bleibt aber kühl, vor allem wegen des gegenwindes. Immer noch habe ich das gefühl, nicht von der stelle zu kommen. Immer noch denke ich an zu hause und fühle, dass mir jetzt jemand fehlt, mit dem ich reden kann.

Nach weiteren lästigen aufs und abs erreiche ich Duras, ein gepflegtes, mittelalterlich anmutendes bergdorf, das ein eigenes tourismusbüro unterhält, in dem ich einen stempel bekomme. Der ort besitzt eine trutzige burg, die von einigen tagestouristen besucht wird, wie ich an den parkenden autos erkenne. Auf der abfahrt von Duras regnet es wieder stärker. Der wind scheint mich festzuhalten. Und ich muss noch mehr als 25 km gegen ihn ankämpfen.

Zu allem überfluss findet im 10 km entfernten Monsegur ein ‚jazzété‘ statt. Der ort quillt über von menschen. Im schritttempo muss ich mich durch die besucher schlängeln, passiere musikbühnen, gaukler, fress- und getränkebuden. Im vorbeifahren kaufe ich ein stück mandelkuchen, der als typisch für diese region angepriesen wird, mir aber viel zu klebrig und zu süß schmeckt. Endlich bin ich durch die menschenmenge durch. Es folgen noch zwei anstiege bis La Réole – 2 und 3 km lang. Der wind weht mir weiter kräftig entgegen. Im letzten waldstück höre ich schon wieder einen grünspecht. Oder bilde ich mir das ein? Nein, da ist es ganz deutlich, das helle auffallende geschnatter. Wieder fang ich an zu ’similieren‘, wie Beikircher sagen würde. Ein paar von meinen stets so nahen tränen rollen mir über die wangen bis unter den helmgurt. Zum ersten mal in meinem leben spüre ich heimweh. Heute abend werde ich länger telefonieren. Oder vielleicht gar nicht?

Nun rolle ich ins tal der Garonne, die ich auf einer weit geschwungenen stählernen brücke überquere. La Réole scheint  ziemlich herunter gekommen. An der durchgangsstraße am fluss und am bahnhof liegen einige verlassen wirkende betriebe und werkstätten, am marktplatz zwei pinten, die keinen gepflegten eindruck machen. Gegenüber das ‚office de tourisme‘ ist geschlossen. Viele verfallene häuser, auch in der gepflasterten hauptstraße, die hoch führt zur Benediktiner abtei und der kirche St. Pierre. Beide finde ich jetzt am sonntag abend verschlossen. Im St. Jean Bosco centre – was immer das auch sein mag –  macht mir auch niemand auf, als ich dort um eine pilgerunterkunft nachfragen will.

Also dann ins Hotel de l’Abbaye, weil es von der ‚federation francaise de cyclotourisme‘ ausgezeichnet ist als radlerfreundliche unterkunft. Das gebäude ist alt, wirkt verschlossen, dennoch kann ich die verglaste tür öffnen in dem schmalen eingang, in dem ich mein rad abgestellt habe. Die wirtin begrüßt mich im dreckigen morgenmatel. (Es ist inzwischen 19.00 uhr). Sie sagt, eigentlich sei das hotel geschlossen. Sie sei nämlich erst gestern aus dem krankenhaus entlassen worden (armbruch) und führe das hotel ganz allein. Aber an radfahrer würde sie ein zimmer incl. frühstück vermieten. Allerdings könne ich nicht bei ihr zu abend essen, denn zum hotel gehöre kein restaurant. Sie empfiehlt mir ein restaurant am ortseingang, das ich schon gesehen habe, als ich von der garonnebrücke in den ort rollte.

Das rad darf ich in einer rumpelkammer abstellen, in der sich die schmutzwäsche aufhäuft. Im ganzen erdgeschoss stinkt es fürchterlich nach katze. Mein zimmer im zweiten stock ist eng, aber recht sauber und verfügt über dusche, wc und tv. Erst wasche ich nicht nur mich, sondern auch die ‚durchfall-hose‘, zwei trikots und zwei paar socken.

Danach haste ich mit meinem riesenhunger ins empfohlene restaurant. Ich glaube, es ist ohnehin das einzige, das am sonntag in La Reole geöffnet hat. Auf einer überdachten terrasse warte ich nur wenige minuten mit zwei vierköpfigen familien und zwei befreundeten pärchen mit zwei großen wohl erzogenen dobermännern auf melone und schinken als vorspeise. Dann  nehme ich eine dunkle suppe – könnte ochsenschwanz sein – und als hauptgericht lammkoteletts, als nachspeise ein stück torte und zum abschluss käse. Das ganze nennt sich ‚tourist-menu‘ und kostet 85 ff. Für eine karaffe wein muss ich 12 ff drauf legen.

Essen hält leib und seele zusammen, sagt man. Das muss wohl auch bedeuten, dass mit zunehmender magenfülle die schmerzliche gedankenfülle, die zu heimweh führt, abnimmt. Zumindest bin ich viel besserer stimmung, als ich mit vollem magen im leichten nieselregen durch den menschenleeren ort zurück schlendere ins hotel.