Gegenwind in der Tierra de Campos
Samstag, 15. 07. 00: Castrojeriz – El Burgo Raneros
15. etappe: Castrojeriz – El Burgo Raneros 115 km 18,5 Km/h insg. 1960 km
Wie jeden morgen bin ich früh wach. Chretien schläft noch fest. Ich möchte ihm eine kleinigkeit zum geburtstag schenken. Im hostal ist es absolut ruhig. Wirt und wirtin schlafen nicht im haus. Auch sonst ist niemand wach. Das haus ist abgeschlossen. Eine seitentür kann man allerdings von innen öffnen. Von außen braucht man einen schlüssel. Unser zimmerschlüssel passt aber nicht. Trotzdem gehe ich raus. Auf der straße ist niemand zu sehen. Der supermarkt ist noch geschlossen. Aber an der herberge machen sich vier pilger auf den weg. Sie sind bestimmt nicht die ersten, denn inzwischen ist es halb sieben. Die ersten fußpilger starten meist zwischen fünf und halb sechs. Die vier kehren einige meter weiter in ein lokal ein, in dem pilger schon ab sechs uhr frühstücken können. Auch ich trinke dort einen großen milchkaffee und esse ein croissant und ein brötchen mit marmelade. Außerdem kaufe ich eine 300 g tafel schokolade.
Auf dem rückweg ins hostal pflücke ich in einem vorgarten noch ein paar sommerblumen, die ich mit einem klebestreifen aus dem café an der schokolade befestige. Es ist mittlerweile 7.30 uhr, aber im hotel rührt sich noch niemand. Vergeblich versuche ich, auf den hof des hostals zu klettern, wo unsere fahrräder stehen, um von dort entweder ins hostal zu gelangen oder Chretien zu wecken. Wenn ich wenigstens an die räder könnte, dann würde ich sie schmieren und versuchen die rechte vordere schutzblechstrebe an Chretiens rad wieder zu befestigen. Aber alles ist verriegelt und verrammelt.
Ich muss warten, bis eine angestellte kurz vor acht uhr das gebäude aufschließt. In dieser zeit kaufe ich bei einem bäcker in der tiefer gelegenen dorfstraße frisches brot. Endlich wieder im zimmer gratuliere ich Chretien. Er ist schon angezogen und hat auf dem bett gefrühstückt, wie er sagt. Über mein kleines geschenk freut er sich. Als wir dann auf dem hof unsere räder bepacken, steckt er die blümchen umständlich aber mit einem lächeln an eine seiner radtaschen. Auf dem weg aus dem ort werfen wir nochmals einen blick auf die stiftskirche ‚Nuestra Senora del Manzano‘. Aber auch jetzt ist sie abgeschlossen und wir können die so gelobte marienstatue nicht bewundern.
Am ortsausgang treffen wir dann einen bauern, der noch zwei esel angespannt hat und uns erzählt, dass so ein gespann auch in Spanien inzwischen eine seltenheit geworden ist. Weiter geht’s auf kleinen oft staubigen sträßchen ohne jeden autoverkehr durch die Tierra de Campos – dem land der felder. Diesem namen machen die nächsten 100 km alle ehre, denn um uns herum sieht man nichts als felder und abermals felder: abgeerntete gerste, weizen, mais, gras, luzerne oder ödland. Bis zum horizont erstrecken sich manchmal goldgelbe sonnenblumenfelder. Die farben sind vor allem am abend ein augenschmaus: von zartgelb bis tiefblau schimmert der himmel über den rotgoldenen äckern. Eine monotone landschaft, die aber auch ihre großartigen seiten hat. Gabriele oder mein vater – menschen, die die weite lieben – wären von diesem land begeistert. Eine schier unendliche offene ebene mit sanft geschwungenen baumlosen hügeln. Auf den hügeln immer wieder burgen – Kastilien steht für land der kastelle -, die von der kriegerischen vergangeheit zeugen, als hier die grenzlinie zwischen christen und mauren verlief.
Bewässert werden die getreidefelder mit hilfe eines hunderte kilometer langen kanalsystems, bei dem die zwischen drei und einem meter breiten kanäle zum teil eingegraben, teilweise aber auch auf deichen höher gelegt wurden. Die breiteren wasserwege wurden im vorigen jahrhundert auch als transportweg für getreide genutzt. Heute dient auch der über 200 km lange Canal de Castilla mit seinen 49 schleusen nur noch der bewässerung. In diesem jahrhundert hat man vielerorts noch die bewässerung ergänzt durch ein wasserleitungssystem aus betonelementen auf stelzen.
Nach einem kurzen anstieg entdecken wir im tal vor uns den grünsteifen des Rio Pisuerga, der früher die grenze zum königreich Leon bildete. An der alten brücke bei Itero, lassen wir uns zeit für fotos und eine kleine pause. Vor Boadilla del Camino müssen wir noch einmal klettern. In dem kleinen örtchen bewundern wir die dreischiffige kirche aus dem 16. jahrhundert, in der ein wunderschön schlichtes romanisches taufbecken unsere besondere beachtung findet. Vor der kirche steht ein reich verzierter gotischer gerichtspfeiler – ‚rollo jurisdiccional‘ – aus dem 14. jahrhundert. Er ist zeichen dafür, dass der ort selbst richterliche gewalt ausüben durfte. An dieser säule wurde gericht gehalten und zur vollstreckung der urteile wurden die abgeurteilten an diesen pfeiler angebunden.
Bis Fromista sind es jetzt nur noch fünf kilometer. Im ort entdecken wir gleich die schönste romanische kirche des gesamten caminos, die Iglesia San Martin. Ihr grundriss ist dreischiffig, wobei jedes schiff von einer apsis abgeschlossen wird. Sie hat eine achteckige kuppel über dem querschiff und zwei zylindrische türme zu beiden seiten der hauptfassade. Ganz besonders hervorzuheben sind die perfekten schmuckmotive an den kapitellen im innenraum und die 315 sparrenköpfe, die ringsum die äußeren dach-vorsrpünge schmücken und alle verschieden sind: da gibt’s heidnische und biblische motive wie drachen oder löwenköpfe und schlangen, florale und geometrische muster. Vielfalt und perfektion der darstellungen sind erstaunlich.
Gleich neben der kirche an einer hauswand entdeckt Chretien das fahrrad seines freundes Jos, der ihn wie verabredet hier erwartet. Er begrüßt uns freundlich. Chretien lädt uns gleich zu einem geburtstagstrunk auf die terasse eines cafés ein. Die beiden haben sich natürlich viel zu erzählen. Da mache ich mich wieder auf meine solotour. Chretien ist beim abschied – wie es seine art ist – ziemlich verlegen, aber ich spüre doch seine herzlichkeit. Ich wünsche den beiden einen ‚buen camino‘ und fahre los.
Zunächst muss ich aber noch proviant und vor allem wasser einkaufen, denn nun steht eines der dünn besiedelsten und einsamsten teilstücke der gesamten tour bevor. Die Tierra de Campos gehört zur hochebene der Meseta und in diesem Gebiet leben nur 18 menschen pro quadratkilometer. Die abstände zwischen den einzelnen siedlungen sind enorm. Nur hier und da ragt ein kirchturm aus diesem endlosen flickenteppich hervor und zeigt an, dass sich dort eine kleine siedlung befindet. Die großen fernstraßen laufen weitab von dieser gegend, die sich seit jahrhundeten nur wenig verändert zu haben scheint. Einzig die riesigen strommasten, die gelegentlich das landschaftsbild stören, erinnern daran, dass wir uns im jahr 2000 befinden.
Zur härte dieses landes trägt auch das klima bei: ‚drei monate winter, neun monate hölle‘ lautet ein sprichwort über das kastilische wetter. Na ja, bisher war es für mich keine hölle. Ich radle entspannter bei 30 grad in der sonne als bei 10 grad im regen. Man muss halt nur daran denken, viel zu trinken. Jeden morgen fülle ich meine beiden flaschen mit meinem billig-drink, mit dem ich bislang sehr gut zurecht gekommen bin: zwei magnesium tabletten vom Aldi (insgesamt hatte ich vier röhrchen mitgenommen) mit mineralwasser ’sin gaz‘ auffüllen. Unterwegs kaufe ich dann neues wasser und fülle nach. Die großen plastikflaschen mit dem restlichen wasser klemme ich dann zusätzlich unter den schnellbinder – als reserve oder zum abkühlen der unter dem helm erhitzten kopfhaut bzw. zum waschen der hände oder beine.
Schon auf den letzten kilometern vor Fromista hat der wind zugenommen. Aber da ich mich jetzt richtung Leon stärker nach nordwesten halten muss, stört er mich mehr. Trotzdem läuft es zunächst noch ausgezeichnet. Ich bin froh, wieder mein tempo fahren zu können, lege mich auf meine armstützen und drücke das große blatt. Aber in dieser hochebene, die flach wie ein teller ist, kommt alle 8 bis 10 kilometer so eine art tellerrand, der nicht steil, aber den rhythmus störend ansteigt.
Bis Carrion des los Condes ist die route ruhig und beschaulich, fast leer. Auf diesen 20 kilometern liegen nur vier kleine siedlungen und zwei einsiedeleien inmitten dieser meist abgeernteten unendlichen felder. Rechts und links von der straße sehe ich keine dörfer oder straßen. Nur weite um ich herum, aber keine öde landschaft. Sie ist monoton, aber bewirtschaftet. Ich frage mich nur, wo die menschen leben, denen das land gehört. Hier fehlen dörfer. Nirgendwo sieht man menschen. Nur die bedauernswerten fußpilger wandern tapfer und meist gut gelaunt gleich neben der straße durch diese heiße eintönige ebene. Als radfahrer liebe ich diese leere weite. Sie ermöglicht mir ungetrübtes vorankommen und echtes radvergnügen. Kein lärm, keine verkehr, kaum fixpunkte fürs auge. Das lässt den gedanken freien raum, verlangt aber neben der körperlichen anstrengung eine mentale auseinandersetzung mit zeit und raum. ‚In einer Landschaft, in der ein einzelner baum kilometerweit zu sehen ist, wird die zeit anders gemessen.‘[1] Wieviel mehr gilt das für die fußpilger, die tagelang durch die Meseta wandern?
13 kilometer weiter lege ich in Villalcázar eine zweite pause ein, denn der wind ist noch stärker geworden, weil auch das land hier noch offener und höher liegt als heute morgen. Zu Chretien und Jos habe ich gesagt, ich wolle probieren heute noch bis Leon zu kommen. Da habe ich den mund wohl zu voll genommen, denn es ist jetzt 13.00 uhr und bis in die haupstadt Kastiliens sind es jetzt noch fast 90 kilometer. Das wäre zu schaffen, wenn ich nur noch powern würde. Aber ich weiß, dass es hier noch viel zu sehen gibt und dass ich noch fast 35 kilometer unbefestigten pfad zwischen Sahagun und Mansilla de las Mulas vor mir habe. Also ziele zurückstecken! Bis jetzt habe ich 45 kilometer geschafft. Jetzt noch mal 70 sind genug. Sahagun sind nur 50, Mansilla wären 80. Dann könnte ich auch bis Leon durchfahren. Nein! El Burgo Ranero liegt etwa 70 kilometer von hier und hat laut pilgerführer eine gut geführte herberge. El Burgo Ranero wird meine nächste station!
Während ich diese überlegungen anstelle, habe ich meinen in Fromista gekauften proviant vollkommen verspeist: eine büchse sardinen, zwei tomaten, ziegenkäse, zwei apfelsinen, 1/4 liter joghurt und ein ganzes brot. Aufgeschreckt fahre ich in meinen überlegungen hoch, als es plötzlich laut knallt. Gleich neben dem kirchplatz, auf dem ich mich niedergelassen habe, böllern zwei festlich gekleidete herren mit einer kartusche. Und nun entdecke ich auch warum: aus den auf der straße anhaltenden autos steigt eine vielzählige hochzeitsgesellschaft mit einem sehr jungen und hübschen brautpaar. Die trutzige kirche Santa Maria la Blanca, in die das brautpaar einzieht, wurde im 13. jahrhundert von den Templern gebaut und ist ein gut erhaltenes beispiel für die übergangszeit von romanik zur gotik. Ihr portal ist überreich verziert mit vielfältigen bildhauereien und im innern birgt sie die berühmte sitzende statue der ‚weißen mutter gottes‘.
Bis Carrion des los Condes bleibe ich auf ruhigen nebenstraßen. In dem lebhaften ort, in dem es im mittelalter nachweislich sieben hospize gegeben hat, ist markt. Zwischen all den hausfrauen und einkaufenden pilgern, die schon ihr tagesziel erreicht habe, sehe ich den ersten reiter-pilger. Er sitzt in einem reich geschmückten sattel und benutzt dazu passende schlaufenbügel. Seine satteltaschen sind gut gefüllt, aber nicht zu schwer, denn sein rappe hat ein stattliches stockmaß und ist kräftig gebaut. Über einen quer zur straße verlaufenden gitterrost will der wallach aber nicht rüber. Der stolze reiter bemüht sich energisch mit viel beinarbeit das tier voran zu treiben, bleibt aber ruhig. Als er schließlich spürt, dass immer mehr zuschauer seine bemühungen beobachten, führt er sein pferd über den bürgersteig weiter.
Hinter der brücke über den Carrion liegt auf der linken straßenseite das ehemalige kloster des heiligen Zoilo, das früher von Benediktinern aus Cluny unterhalten wurde und heute ein hotel beherbergt. Im kreuzgang des klosters, der leider in der Mittagszeit nicht zu besichtigen ist, liegen die grafen von Carrion begraben. Sie waren anscheinend weder besonders charakterfest noch intelligent. Denn in der hoffnung auf reiche mitgift hatten sie ausgerechnet die töchter El Cids geheiratet, sie aber schon auf dem rückweg von der hochzeit verprügelt und mitten in der einsamkeit der campos zurückgelassen. Kein kluger schachzug, denn der strafe ihres kämpferischen schwiegervaters konnten sie nicht entrinnen[2].
Weiter geht’s jetzt über die stärker befahrene N 120 nach Sahagun. Als ich in Cervatos la Cueza wieder noch nordwesten abbiegen muss, kommt der wind für 25 km genau von vorne. Zu allem überfluss muss ich nach Ledigos auch noch einen halben kilometer klettern und zwar auf einer breiten, ungeschützen nationalstraße mit rauh asphaltiertem seitenstreifen. Solche stücke sind wie verhext. Da läuft einfach nichts. Selbst auf den letzten 13 kilometern in der ebene nach Sahagun muss ich wegen des windes das mittlere blatt auflegen und erreiche mit mühe gerade mal 17 stundenkilometer.
Sahagun hat gleich zwei backsteinkirchen, die starke maurische einfüsse aufweisen. San Tirso ist eine mischung aus romanik und dem mudejarstil und stammt aus dem 12. jahrhundert, während San Lorenzo aus dem 13. jahrhundert teils gotisch, teils im mudejarstil erbaut ist. In der viel jüngeren restaurierten dreifaltigkeitskirche ist eine moderne und komplett ausgestattete herberge untergebracht, in der es um halb vier schon von pilgern wimmelt. Dennoch gefällt mir die herberge so gut mit der ganz in hellem holz gehaltenen zweiten ebene oberhalb des kirchenschiffes, in dem eine pilgergruppe für eine musikaufführung übt, dass ich gerne bliebe. Vielleicht aber bin ich auch nur müde. Aber ich müsste als radpilger bis sieben uhr warten, ehe ich erfahre, ob ich einen schlafplatz bekomme, sagt mir der junge mann am empfang.
Das ist mir zu spät. Wieso überlege ich überhaupt hier zu bleiben? Ich will doch ohnehin in El Burgo Raneros schlafen. Anscheinend bin ich müder, als ich mir eingestehen will. Trotzdem mache ich mich wieder auf die pedale. Vorher fotografiere ich noch die pilgerstatue vor dem hospiz und trinke in einer wirtschaft, in der es bei einer hochzeit hoch hergeht, eine große Cola. Ich muss immerhin noch etwa 20 kilometer bis El Burgo Raneros zurücklegen.
Während in einem pilgerführer das nun anstehende teilstück als ‚herrliche plantanenchaussee‘ und als ‚bequeme funktionelle straße‘[3] gelobt wird, nennt der niederländische rad-pilgerführer diesen weg ein ‚pad‘, das durch junge bäume begleitet der alten route gewalt angetan habe[4]. Mir ist der grell weiße schotter einfach zu dick und zu locker. Außerdem sind die plantanen meiner meinung nach ohnehin an der falschen wegseite gepflanzt worden, da morgens, wenn die meisten fußpilger unterwegs sind, ihre schatten auf die äcker und nicht auf den weg fallen. 32 kilometer auf diesem schotter scheinen mir als radfahrer schon unglaublich mühselig trotz mehrerer rastplätze. Wie müssen sich aber die fußpilger erst fühlen, wenn sie wissen, dass sie mehr als einen tag lang auf dieser schotterigen ‚pilger-autobahn‘ laufen müssen. Ich nehme lieber den parallel dazu verlaufenden alten sandweg, auf dem nur hin und wieder ein traktor vorbeikommt.
Dieser wirtschaftsweg endet in Bercianos del Real Camino. Hier muss ich entweder noch 7,5 km auf dem neuen kiesweg weiter fahren oder ich mache einen umweg über asphaltierte straßen. Ich entscheide mich angesicht meiner müdigkeit und des gegenwindes für den umweg über Graneras, den dann habe ich zwar einige kilometer seitenwind zu verkraften aber wieder asphalt unter den reifen. Das läuft einfach besser.
Nach weiteren 10 kilometern bin ich endlich in El Burgo Ranero, ein winziges örtchen mit einer einzigen straße, einem laden, einer pinte und einer herberge, die in meinem buch als ‚ausgezeichnete gemeindeherberge mit 36 etagenbetten und sehr guten einrichtungen‘ beschrieben wird. ‚Eine der elegantesten und gelungensten herbergen des pilgerpfades‘[5] heißt es dort weiter.
Es ist ein haus mit aus lehm und stroh in traditioneller art gefertigten wänden, wie es sie in der Meseta noch vielfach gibt. Im haus stehen außer den 36 etagen-betten auch noch vier matrazen auf den fluren zur verfügung,, so dass – als ich ankomme – schon 76 schlafplätze vergeben sind. Für mich besteht noch die möglichkeit, auf der wiese hinter dem refugio mein zelt aufzuschlagen oder im aufenthaltsraum auf den gemauerten und verfliesten bänken oder dem boden zu schlafen.
Und was die einrichtungen angeht, so gibt es in dem refugio eine dusche und ein wc, ein spülbecken und zwei kochplatten, die allerdings nur an 220 volt angeschlossen sind. Ehe ich für mich und einen jungen priesterseminaristen aus Münster teewasser zum kochen bringe, dauert es mehr als 15 minuten. Ich bin froh, dass wenigstens ein wasserkessel da ist. Einige französische junge pilger bruzeln auf der nachbarplatte ein gemüseomelette in einer ziemlich dreckigen bratpfanne. Außerdem gibt’s noch ein paar alte becher, noch weniger teller, ein brot- und ein küchenmesser. Man sollte als pilger auf dem camino eben autark ausgerüstet sein.
Zunächst denke ich daran, doch noch in der pinte nachzufragen, ob dort ein zimmer zu mieten ist. Aber als ich zum einkauf des abendbrotes in den kleinen dorfladen gehe, stelle ich erschrocken fest, dass ich nicht einmal mehr tausend peseten (12 DM) im portemonne habe. Eine bank oder einen geldautomaten gibt es hier nicht. Zum glück sind die lebensmittel billig in Spanien. Fürs abendbrot reicht es allemal und auch noch für eine flasche rotwein. Schließlich bette ich mich im aufenthaltsraum. Da spare ich mir das hantieren mit dem zelt. Ich wähle die bank gleich neben dem eingang, weil sie die breiteste ist.
Eine etwas aufdringliche Amerikanerin, die anscheinend der herbergswirtin ein wenig hilft, fragt mich, woher ich käme und wieviel kilometer ich heute zurückgelegt hätte. Sie meint, ich solle morgen mal einen ruhetag einlegen, denn ich sähe sehr müde aus. Ich bin erstaunt und antworte, ich sei zwar müde, aber ich fühlte mich noch fit und würde auf jeden fall morgen weiter radeln, wenn auch vielleicht nicht wieder so viele kilometer, wenn der wind weiterhin so stark zu meinem nachteil bläst. Sie lächelt und schüttelt den kopf, lässt mich dann aber in ruhe. Der Münsteraner erzählt mir später, dass die gleiche frau ihm unangenehm aufgefallen sei, weil sie sich auf recht vorlaute art in seine unterhaltung mit der herbergswirtin über einen zusätzlichen matrazenschlafplatz auf dem flur eingemischt habe. Na ja, es gibt halt menschen, die meinen immer und überall helfen zu müssen und merken gar nicht, wie sie sich einmischen in angelegenheiten, die sie nichts angehen. Gabriele kann nach 25jähriger ehe mit mir ein lied davon singen.
Als ich mich gerade häuslich eingerichtet, geduscht und umgezogen habe, sehe ich draußen vor der herberge ein auto mit polnischem kennzeichen. Die beiden dazu gehörenden jungen männer haben auf der wiese hinter dem refugio ein geräumiges igluzelt aufgeschlagen. Ich vermute, dass es die autobegleiter der vier priester sind. Eine gute halbe stunde später gegen 7 uhr kommt Marek, der jüngste und als radfahrer auch der stärkste polnische priester an. Er wirkt ziemlich müde und ist enttäuscht, als er hört, dass er kein bett mehr bekommt.
Mich begrüßt er überaus freundlich mit schulterklopfen. In gebrochenem englisch erzählt er mir, dass die vier auch in Castrojeriz geschlafen haben und zwar im zelt auf dem hof der herberge. Sie haben dann auch den ganzen tag mit dem gegenwind kämpfen müsssen. Schließlich haben sie sich auf dem schotterpfad aus den augen verloren, weil sie zu unterschiedliches tempo fuhren. Verabredetes heutiges ziel sei El Burgo Raneros. Die beiden autofahrer bieten sich an, die anderen drei abzuholen. Aber Marek schüttelt nur den kopf. Das wolle der stolze Brunek bestimmt nicht, meint er. Inzwischen ist auch der schweigsame ‚Mroz‘-Kristof angekommen. Auch er sieht ziemlich mitgenommen aus.
Wieder eine viertelstunde später kommt auch Jonacz an. Sein rad fällt ihm beinahe aus der hand, als er absteigt. Er berichtet, Brunek sei noch weit hinter ihm, weil er mehrere defekte hatte. Jetzt wollen die beiden autofahrer sich auf die suche machen, aber Jonacz meint, dass sei nicht nötig. Das letzte stück würde Brunek jetzt auch noch radeln wollen. Gegen halb neun kommt er endlich an. Auf einem platten hinterreifen rollt er fröhlich grinsend auf den parkplatz. Wenn auch völlig ausgelaugt und total verschwitzt, berichtet er mit ausgetrocknetem mund unheimlich stolz von seiner leistung: 115 km bei ständigem gegenwind und vier defekten. Er trinkt erst einmal tüchtig und erzählt, dass er drei mal geflickt habe, aber etwa drei kilometer vor El Burgo Raneros beim vierten plattfuß aufgegeben habe.
Während seine kameraden mit ihm scherzen und ihn noch ein wenig veräppeln, tut er mir unglaublich leid, weil ich weiß, dass er morgen wieder 100 kilometer kämpfen muss. Außerdem ärgert mich, dass er so bequem ist und den reifen nicht gründlich auf fremdkörper untersucht. Allerdings behauptet er, er habe gründlich nachgefühlt. Als ich jedoch den mantel von innen abtaste, finde ich ein drahtstück in einer flanke. Ich zeige es Brunek. „Oh metal!“ sagt er nur lachend und geht unter die dusche.
Nach dem abendbrot unterhalte ich mich mit den sechs polen, dem angehenden priester, einigen andern jungen deutschen und französischen fußpilgern lange draußen vor der herberge über den heutigen tag, den camino, übers radfahren, über polen, deutsche und franzosen und über die kirche. Schließlich tausche ich mit den polen die adressen aus. Sie laden mich ein, nach Danzig zu kommen. Ich sage, ich wolle erst einmal nach Santiago de Compostela und sie sollten erst mal nach Fatima fahren. Schließlich legen sich nur die autofahrer und die beiden jüngeren ins zelt, während Brunek und Jonacz sich mit mir im aufenthaltsraum auf den bänken zusammen rollen. Das ist ein geschnarche in der nacht. Trotz des rotweins werde ich oft wach, weil die isomatte einfach zu wenig polstert. Dafür aber sind mein schlafsack und mein fleece-pulli-kissen spitze.
Ene der schwierigsten etappen, die wegen des geldmangels und der primitiven unterkunft zum fiasco zu werden drohte, wird durch den unterhaltsamen abend in netter gesellschaft und die wohltuende pilgeratmosphäre in dem vollen haus zu einem der nachhaltigsten erlebnisse der gesamten tour.
Stock, kürbisflasche und muschel gehören auch heute zur traditionellen ausrüstung der jakobspilgers. Sie werden entlang des camino immer wieder angeboten.
[1] C. Nooteboom, 1996, S. 367
[2] T. Schröder, 1999, s. 194 f
[3] M.B. Lozano, 1996, S. 150
[4] vgl. C. Sweermann, 1999, S. 60
[5] M. B. Lanzano, 1996, S. 150