Geduld gefragt
Riga, 23. 07. 2014
Die Abkürzung nach Riga weg vom Küstenradweg quer durch das flache Lettland war immer schon eine Option in meinen Plänen für diese Reise. Aber jetzt ist sie notwendig, rede ich mir zumindest ein. Zwei Wochen hab ich noch, bis ich aus Russland wieder raus sein muss. Gerechnet habe ich jetzt schon oft genug. Wenn ich stramm durchradle, hätte ich die Zeit, immer an der Küste zu bleiben. Aber ich habe die Geduld nicht.
Die Abkürzung führt über die A 9, eine zweispurige Fernstraße mit schmalem Seitenstreifen. An einer fahrradfreundlicheren Alternative über kleinere Straßen habe ich lange auf Google Maps getüftelt und mein Garmin mehrmals rechnen lassen. Aber ohne zufriedenstellendes Ergebnis. Dann könnte ich besser an der Küste bleiben, als kreuz und quer durchs lettische Dörfer und Wälder zu irren.
Nach dem Besuch des Gefängnisses in Karosta ist es schon Mittag, ehe ich auf die A 9 komme. Riga 217 km. Heute noch kleine hundert, morgen den Rest. Muss gut zu schaffen sein, auch bei dem Wind. – Saldus heißt ein Städtchen etwa auf der Hälfte der Strecke. Da werde ich heute übernachten.
Die Fahrspuren auf der A 9 sind recht breit. LKW können an mir mit genügend Abstand vorbei fahren, ohne den Mittelstreifen zu überqueren. Dazu muss ich natürlich ganz am Rand bleiben. Komme ich mal nach rechts von dem Seitenstreifen ab, lande ich auf einem fest gefahrenen Schotterstreifen, der nur wenig tiefer liegt als die Fahrbahn. Ich hab schon nach wenigen Minuten keine Bedenken mehr, hier die 200 km ohne erhöhtes Risiko fahren zu können.
Mein Durchschnitt liegt knapp unter 20 km/h. Mehr als fünf Stunden heute. Und morgen nochmal sechs. Auf der gleichen Straße, durch eine fast flache Landschaft mit Wiesen und Äckern. Größere Waldstücke gibt’s auch. Besonders aufregend ist es hier nicht. Nur die silbernen Kiefernwäldchen geben schon ein sehr skandinavisches Bild ab.
Immer wieder mal ruhen kleinere Seen neben der Straße, meist in feuchten Sumpfgebieten. Wenige sehr kleine Dörfer liegen nie direkt an der Straße, sondern einige hundert Meter links oder rechts davon. Zu zwei Orten, in denen ich Proviant kaufe, biege ich kurz ab. Auch das bringt wenig Abwechslung, Nichts Spektakuläres. Viel Zeit zum Nachdenken. Über die Reise. Über mich.
Zunächst geht mir durch den Kopf, welche Alternativen ich hätte zu zwei Tagen auf de gleichen recht eintönigen Straße zu fahren. Soll ich einfach umdrehen, mich mal vom Wind tragen lassen. Alles Pläne ändern? Einfach zurück radeln? Quatsch! Ich will doch noch nach Petersburg. Und wenn jetzt so’n kleiner Transporter oder jemand mit ‘nem Anhänger mich mitnehmen würde. Zwei ein halb Stunden und ich wäre in Riga. Wenn wenigstens ein Trecker käme. So um die 30 müsste er fahren. Locker würde ich mich hinter ihn hängen. Entspannt, einen Meter hinter seiner möglichst hohen Karre im Windschatten mit rollen, bis er dann leider zu früh ab biegt. Alles Hirngespinste. Ich muss einfach geduldig weiter treten.
Geduld – habe ich nie genug davon besessen. Für einen Lehrer ein berufliches Dilemma. Immer schnell fertig sein will ich. Immer rasch weiter kommen zum nächsten. Auf Treppen nehme ich nur jede zweite Stufe. Nie konnte ich warten auf die Langsameren. Im Unterricht nicht, beim Arbeiten zuhause nicht, auch in der Freizeit nicht. Ob Fahrrad putzen, kochen, Museum oder Shoppen – es muss voran gehen, darf nicht zu lange dauern.
Ausdauer ja – vor allem beim Radfahren, beim körperlichen Arbeiten z. B. im Garten, beim Anstreichen, auch beim Arbeiten am PC. Aber die Ausdauer geht immer gepaart mit innerer Ungeduld: Das Ende muss absehbar sein. Mühsam und langsam an einer endlose Sache stricken – nichts für mich. Es muss schon Veränderung stattfinden, ein Weiterkommen erlebbar werden, ein Fortschritt spürbar sein.
Nach einer Stunde komme ich nach Durbe. Ein stilles, verschlafenes Nest. Im kleinen Dorfladen kaufe ich zwei Brötchen, ein Stück Käse, zwei Nektarinen und Yoghurt. An einem Straßenstand hab ich vorhin einer Frau schon eine Schale Blaubeeren abgekauft . Mittagessen auf einer schattigen Bank vor der Dorfkirche. Ein etwa 40jähriger Vater, fragt mich nach meinem Ziel. Er bedauert: „To Riga? Oh you have the wrong wind.“ Er sei schon mal über 200 km an einem Tag mit dem Rennrad gefahren. Aber mit Rückenwind. Dann stellt er stolz aber sehr selbstverständlich seine drei zehn vier und drei Jahre alten Kinder vor, die sehr ruhig neben ihm liegen oder sitzen.
Er sei Musiker, habe Klarinette studiert, erst in Riga, dann in Lübeck bei einer Frau Meier. Sein Deutsch sei wegen der fehlenden Übung ganz schlecht geworden. Inzwischen sei er „director“ des Sinfonie Orchesters Liepaja. Ein gutes Orchester, vielleicht besser als das in Riga. Und während er das alles erzählt – er spricht langsam, fast bedächtig, ohne anzugeben, mit leiser Stimme – legen die zwei kleinen ihre Köpfchen auf seinem Schoß und die Beine auf die Bank. Die große sitzt am Ende, hört zu, zeigt, dass sie auch schon ein wenig Englisch spricht. Schnell rennt sie hinter meiner Plastikschale her, als der Wind sie von der Bank runter über den Kirchplatz treibt. Die paar Blaubeeren, die noch drin waren, liegen im Dreck. Ich hätte sie ihr gerne gegeben.
Welch Idylle: sonniger stiller Kirchplatz, umgeben von ein wenig kümmerlichen Linden. Bei einer frischen Brise macht ein mit sich und der Welt zufriedene Musiker im Schatten der Bäume eine kleine Rast. Seine Kinder spielen oder ruhen um ihn in der Mittagssonne. Er erzählt – gemächlich, gelassen, in sich ruhend – die Haare der schläfrigen Kleinen streichelnd. Das größere Kind hört zu, spielt an den Sandalen der kleinen Schwester. Im Hintergrund eine ältere Frau in Schürze und Wollsocken auf dem Weg in den Laden. Eine Katze huscht von der sonnenbeschienen Ladentreppe.
Und ich? Ich passe nicht ins Bild. In den engen Radklamotten, dem verschmierten Trikot, den verschwitzten Haaren, mit dem bepackten Rad. Vor allem aber wegen der Unruhe, der Hast, die ich versprühe. Ich sitze nicht mal richtig auf der Bank. Ich esse viel zu hastig. Ständig nicke ich zwar zustimmend, antworte auch kurz, oft mit vollem Mund, nehme nicht mal die Zeit zu kauen. Ich will gar keine Pause machen, will nicht ausruhen. Ich will nur essen und weiter.
Als ich mich wieder aufs Rad schwinge, hebt die vierjährige den Kopf und winkt mir zu, die Große sagt „Good bye“ und der Musiker wünscht mir, dass der Wind sich dreht. Hätte ich seine Ruhe, wäre der Wind überhaupt kein Thema.