Champagner-Route

Montag, 03. 07.: Reims -Troyes

3. etappe: Reims – Troyes 147 km 20,2, km/h insg. 462 km

Seit 5.30 uhr liege ich wach. Die radschuhe sind noch klatschnass. Ein glück, dass ich noch ein zweites paar mitgenommen habe. Die frisch gewaschene unterwäsche kann ich wieder anziehen. Trikot, radhose und strümpfe muss ich aber auf dem rad noch weiter trocknen, wenn es denn nicht regnet. Gegen 7.30 uhr gehe ich runter. In der gaststätte putzt eine frau und bringt mir das frühstück: ein croissant, 20 cm baguette, ein löckchen butter und kaffee. Dazu esse ich zwei bananen (auf das baguette gequetscht) und zwei müsli-riegel.

Ein von gestern abend noch recht betrunkener nordafrikaner quatscht mich wegen meines radtrikots an und meint, Bernhard Hinault sei immer noch der beste radsportler. Zustimmend nicke ich freundlich und mache mich fröstelnd auf den weg. Zunächst finde ich die bescheidene in einer häuserzeile eingebaute „Eglise St. Jacques“. Dann fahre ich zur kathedrale Notre Dame und bekomme dort einen stempel.

Am justizpalast mit der Jeanne d‘ Arc-statue vorbei verlasse ich das zentrum richtung süden. Ich suche hinweisschilder nach Troyes, verfranse mich aber in der nähe des bahnhofs, muss drehen und radle insgesamt elf kilometer meist über gut ausgebaute innerstädtische radwege, ehe ich wirklich außerhalb der stadt auf der von mir gesuchten D 9 bin, die mich nach acht kilometern schon in die waldreichen hügel des ‚Montagne de Reims‘ bringen soll. Als einer der radwege direkt bei Mac Drive vorbeiführt, ergreife ich die gelegenheit, um wieder einmal eine blitzsaubere toilette zu benutzen. Morgens um 9.30 uhr gibt’s in Frankreich kaum sauberere wc als die von Mac Donald’s. Einmal abgestiegen und rad verschlossen verschlinge ich dann auch ein frühstück mit rührei, tomaten, brötchen und warmen kakao. Den wie immer eiskalten o-saft kippe ich in meine radflasche.

Zuerst führt die D 9 ca. vier kilometer gemütlich bergan, dann geht’s hinter der kreuzung mit der D 26 einen halben kilometer viel steiler hoch, bis ich den wald erreiche und bald auch den mit 234 m höchsten punkt der Reimser Berge. Von hier aus geht’s runter ins Marne-tal. Auf der südseite des höhenzuges fahre ich durch die ersten weinfelder der Champagne. Gleich das erste gehört der berühmten kellerei Pommery und das nächste Moet et Chandon. Kilometerlang sind diese felder und fast eben. Die weinbauern können bequem mit ihren hochrädrigen traktoren über die weinstöcke hinweg fahren. An jedem feld haben sie im abstand von etwa 50 metern rosen gepflanzt, weil diese vor den weinstöcken einen schädlingsbefall anzeigen und die winzer dann noch ihre trauben schützen können, natürlich mit der chemischen keule. Heute sprühen alle mit diesen geräten feinstes wasser auf die vom gestrigen hagel getroffenen unreifen trauben, um fleckenbildung auf den beeren zu vermeiden, erzählt mir einer der winzer.

Bis zum mittag folgt meine route mehr als 30 kilometer der ‚Route Champagne touristique‘, auf der ich auf oft kilometerlangen schnurgeraden landstraßen durch beschauliche, aber viel besser unterhaltene dörfer als gestern in den Ardennen radle. Das land hier ist reich, merke ich an den gepflegten großen häusern der champagnerbauern, an den vielen blumenreichen hausgärten, den großen ‚vignobles‘, die alle auch mit ihrer eigenen ‚degustation‘ und ‚vente directe‘ werben. In Avenay-Val d’Or finde ich die schmucke dorfkirche ‚St. Tresain‘ – wieder einer dieser lokalen heiligen, an denen Frankreich so reich ist – eine ursprünglich romanische kirche mit einem turm aus dem 12. und einem reich verzierten portal aus dem 15. jahrhundert.

Nur wenige meter hinter dem ortsausgang überquere ich einen kanal und die Marne, die hier so schmal und untief ist, dass der vorwiegend touristische schiffsverkehr über den parallel verlaufenden kanal abgewickelt werden muss.

In einem lebensmittelmarkt in Vertus kaufe ich mein mittagessen sowie obst und getränke für den nachmittag. Auf einem rasenstreifen am supermartkt-parkplatz verdrücke ich fisch, käse, joghurt, brot und obst. Je zwei bananen, nektarinen und orangen stopfe ich in meine trikottaschen. Bislang ist es trocken geblieben. Aber ich habe vergessen, die noch feuchten radklamotten rauszuhängen. Darum lasse ich sie jetzt über meinem zeltsack auf dem gepäckträger flattern.

Weiter geht’s über die schier endlose und nur leicht hügelige D 9, auf der nur ganz selten ein auto an mir vorbei rauscht. Im stillen Frère Champenoise besuche ich einen der vielen soldaten- friedhöfe, die es hier an der Marne gibt. Auf diesem liegen fast 6000 soldaten aus dem ersten weltkrieg, davon 5800 Franzosen. Darunter sind über 3000 moslems aus den nordafrikanischen provinzen. Deshalb auch die vielen grabsteine mit dem halbmond. Ich schreibe in das ausliegende gästebuch, dass ich auf dem weg nach Compostela bin, einem europäischen weg auf dem menschen sich zwar seit jahrhunderten begegnen, sich aber oft feindlich gegenüber standen, was schließlich zu furchtbaren kriegen führte, aus denen wir hoffentlich gelernt haben.

Es folgt noch ein hügel im departement Marne, der Mont Aimé (der geliebte berg), herrlich gelegen und bequem zu fahren. Danach bleibt es flach bis zum Aube im gleichnamigen departement. Auf der brücke bei Boulages treffe ich zwei ältere pärchen, die gerade den nahen uferwald begutachten, in dem ein ‚coup de vent‘ gestern abend einige pappeln umgekippt hat. Aber das gestrige unwetter sei harmlos gewesen gegenüber ‚la tempêt‘ zu weihnachten ’99, erzählen sie, deren verwüstungen bis heute noch überall zu sehen sind. Dabei zeigen sie mir umgestürzte bäume, notdürftig reparierte dächer auf bauernhäusern und auf ihrer dorfkirche. Schließlich fragen sie mich nach meinem ziel. Sie schütteln den kopf und meinen, es sei ihnen unverständlich, dass man an so einer weiten radtour freude haben könne. Ich verabschiede mich und vergesse leider ein foto von den freundlichen alten auf der brücke zu machen. Der fluss ist etwa so schmal wie unsere Rur. Ohnehin fühle ich mich in dieser gegend fast wie zu hause. Denn überall werden weizen und rüben angebaut und über den feldern teilen große hochspannungsleitungen den weiten himmel wie bei uns.

Auch die Seine ist kaum breiter als die Rur, als ich sie in Mery sur Seine überquere. Ich möchte noch etwa dreißig kilometer an dem fluss entlang fahren. Aber im Seinetal führt die straße nicht unmittelbar am flusslauf entlang. Das ufergebüsch und die auenlandschaft ist so breit, dass ich den fluss gar nicht mehr zu gesicht bekomme. Außerdem sind meine radflaschen inzwischen leer und mich interessiert nur noch, wo ich was zu trinken kaufen kann. Aber bis 16.00 uhr ist hier alles zu. Allein dieser gedanke, dass ich bestimmt noch 50 minuten fahren muss, ohne etwas trinken zu können, lässt meine lippen schlagartig trocken und spröde werden. Die zunge liegt wie ein vertrockneter lappen in meinem rachen. Mein tempo geht unmittelbar um zwei bis drei stundenkilometer zurück. Einzig das obst aus meinen trikottaschen rettet mich bis St. Lye, wo ich in einem café gleich zwei cola trinke und mir beide flaschen auffüllen lasse – eine mit cola, die andere mit leitungswasser. Dabei brauche ich jetzt nur noch 10 km bis Troyes.

Nach 140 km erreiche ich gegen 16.30 Troyes, die alte hauptstadt der Champagne, die sich schon 451 in der ‚Schlacht auf den Katalaunischen Feldern‘ erfolgreich gegen die hunnen gewehrt hat. Im mittelpunkt der stadt, am Place du Marechal Foch, beginnt die autofreie altstadt, in der vor den vielen burgundischen fachwerk-häusern die menschen draußen sitzen und die in diesem sommer spärlich scheinende sonne genießen.

Ich telefoniere mit Gabriele, will dann etwas essen und mir danach ein zimmer suchen. Aber in der lebhaften stadt hat um diese zeit kein restaurant geöffnet – außer fastfood-läden. Mindestens bis 19.00 uhr müsste ich warten. Darum fahre ich zum fremdenverkehrsbüro, wo aber keine pilgerunterkunft bekannt ist. Auch von spuren des jakobswegs wissen die freundlichen jungen leute nichts. Als günstige unterkunft empfehlen sie mir die jugendherberge in Rosières, die etwa 7 km entfernt in einem vorort der stadt liegt.

Als ich ohne abendessen dorthin radle, ist mir klar, dass ich von Troyes nicht viel gesehen habe. Aber da es jetzt am abend deutlich kühler wird und düstere wolken aufziehen, will ich doch schauen, dass ich eine unterkunft finde. Auf dem weg durch Troyes‘ wohnvororte ruft mich Saskia aus Korsika auf dem handy an. Mein erstes telefongespräch auf dem  rad!

Ohne jede sucherei finde ich die abgelegene jh, in der keine gäste zu sein scheinen. Im leeren speiseraum sitzen nur sechs arbeiter, die anscheinend ein großes zelt im garten aufgebaut haben und zum abschluss noch einen trinken. Dabei geht es laut her und zwei jüngere leute im t-shirt, von denen einer eine bäckerhose trägt, haben ein heftiges wortgefecht. Schließlich leeren vier arbeiter ihre gläser und gehen. Ein ungepflegter langhaariger typ mit zahnlücke, alkoholfahne und einem riesenveilchen am linken auge, der sich vorher mit dem bäcker gefetzt hat, kommt endlich zu mir und begrüßt mich. Er verlangt 48 ff für ein zimmer, 20 fürs frühstück, 50 für ein abendessen und nochmals 20 für eine flasche wein. Ohne zu wissen, was ich für das geld bekomme, sage ich zu. Ich weiß, ich stecke voller vorurteile. Aber ich traue dem typ nicht. Er merkt, dass ich ihm mißtraue. Entschuldigend auf sein veilchen zeigend, erzählt er, er habe gestern abend den EM-titel der franzosen in Troyes gefeiert und sei auf dem heimweg gestürzt.

Außer mir sind nur noch zwei junge Franzosen in der jh zu gast, die hier eine ‚randonnée machen, wie sie sagen. Nach ihrer ausrüstung zu urteilen wandern sie. Als sie nach einem schlüssel fragen, weil sie noch mal in die stadt wollen, erklärt ihnen der schmuddelige typ, das haus bleibe die ganze nacht auf. Es würde kein raum abgeschlossen, nicht einmal die küche oder das büro. Das wäre immer schon so gewesen und sei ein zeichen des vertrauens gegenüber den gästen. Von außerhalb drohten ohnehin keinerlei gefahren.

Mein fahrrad soll ich in einem nebengebäude im vorraum einer damentoilette abstellen, die er auch nicht abschließt. Na ja, dann lege ich das rad halt am heizkörper fest und nehme das ganze gepäck mit ins zimmer.

Ich bekomme ein geräumiges 6-bett-zimmer mit vier waschbecken und zwei duschen im 2. stock. Ordentliche toiletten sind auf dem flur. Als ich gegen 20.30 uhr zum essen runtergehe, wird mir erst klar, dass jemand für mich alleine ein abendessen zubereiten muss. Schon höre ich aus der küche aufgeregte stimmen. Schließlich fliegt die schwingtüre auf und der ‚bäcker‘ rennt aufgeregt raus. Der langhaarige – fluchend hinter ihm her – will ihn anscheinend zum bleiben überreden, aber ohne erfolg.

Daraufhin setzt der ‚veilchen-typ‘ sich zu mir an den tisch und ich merke, dass er ziemlich blau ist. Er erzählt, er habe mit dem koch krach und er müsse jetzt selber etwas kochen. Ich erinnere ihn, ich hätte 50 ff gezahlt und wolle wenigstens satt werden. Er beruhigt mich, bringt mir erstmal ein stück baguette, den wein und eine flasche wasser, verschwindet dann wieder in der küche.

Nach fast einer dreiviertelstunde, in der ich im aufenthaltsraum ungestört die zusammenfassung der Tour-etappe anschauen kann, bringt der unsaubere kerl zwei heiße teigtaschen mit einer undefinierbaren rotbraunen scharf gewürzten füllung, danach ein ‚möchte-gern-cordon-bleu‘ aus der tiefkühltruhe, das er in der mikrowelle aufgewärmt hat, und eine schüssel erbsen und möhren. Das ist alles. Als ich daraufhin bemängele, ich hätte noch hunger, holt er mir noch ein stückchen brot, eine ecke brie, zwei tomaten und eine büchse bier, obwohl ich den wein noch nicht ausgetrunken habe. Ich esse alles auf, trinke den wein und verziehe mich mit dem bier auf mein zimmer.