MEER BLICK
Muscat, 11-01-2009
Seit dem Elvira abgereist ist, schlafe ich in Muscat im zelt am strand. Im feine leute stadtteil Shatti al Qurum, mal beim Intercontinental, mal hinter dem Hyatt. Die strände sind in der nähe der großen hotels besonders gepflegt. Hunde sind dort nicht erlaubt. Auch picknicken oder grillen ist unerwünscht. Zelten denke ich auch.
Morgens joggen, walken oder spazieren ganz unterschiedliche anwohner vorbei: junge barfüßige Omani, südeuropäisch anmutende business men in teuren laufschuhen und designer t-shirts, junge engl. und niederl. mütter im schlotterdress mit kinderwagen oder hund, gepflegte männerpaare im tradtionelen weißen omanischen gewandt und einheimische frauen, deren lange schwarze tücher durch wasser und sand schleifen.
Fußballteams, die während des Golf Cups in den hotels wohnen, schlendern unter den palmen. Abends sitzen liebespärchen händchen haltend in den pavillons. Spät nachts streunen einzelne schwule herum, von denen einer sich sehr verhohlen, aber eindeutig auch mir angeboten hat. Am wochenende spielen familien mit kindern hier. Frauen sitzen auf teppichen, männer auf klappstühlen. Kinder toben im seichten wasser.
Regelmäßig schaut die polizei vorbei. In der ersten nacht steckt plötzlich jemand seinen dunkelhaarigen kopf in meine apside. Seinen ausweis hält er ans fliegengitter leise zischend: „Police – pleace open!“ Mit meiner taschenlampe leuchte ich kurz auf den ausweis, schaue ihn mir aber nicht näher an, öffne den zeltreissverschluss. Der polizist fragt, ob ich alleine sei und wo ich her komme. Dann lässt er mich weiter schlafen. Nicht mal meinen pass will er sehen.
Nachts darauf dreht ein polizeijeep auf dem strand eine runde. Schließlich hält er vor meinem zelt und blendet auf. Der fahrer steigt aus und fordert mich auf, raus zu kommen und den strandabschnitt zu verlassen. Es ist 0.30 uhr. Trotz vollmond werde ich mindestens eine stunde brauchen um abzubauen, alles aufs rad zu packen und in einem anderen weniger feinen abschnitt eine neuen zeltplatz zu finden. Ich bitte, diese nacht noch bleiben zu können. Der polizist lächelt, zuckt ratlos mit den schultern, wendet sich dann an seinen beifahrer. Schließlich meint er: Okay, fore one night only! Ich bedanke und verkrieche mich heilfroh in meinen schlafsack.
Zum glück rauschen die ans ufer rollenden wogen in dieser nacht besonders stark. Die wellen verschlucken alle anderen geräusche der nacht, selbst das geschrei der möwen und das krächzen der raben am frühen morgen. Die wellen-rhythmik beruhigt mich. Bis sieben schlafe ich fest und warm unter meinem göffneten daunenschlafsack.
Am morgen sitze ich lange vor meinem zelt. Den duft der weiten see in der nase schaue ich verträumt dem auf und ab der brandung zu. Die frische brise auf der haut blicke ich versunken hinaus auf den arabischen golf. Fasziniert von der kraft und der größe des ozeans, erinnere ich mich an meinen ersten tag am meer.
Ostern 1957 stehe ich neben meinem vater am strand von Noordwijk. Eine kühler wind bläst uns ins gesicht. Wir schauen auf die recht rauhe nordsee. „Du bist jetzt sechs, ich 60 und wir beide sind zum erstenmal am meer.“ Zufrieden und stolz drückt seine kräftig braune linke mit den kurzen fingern mein blasses schmächtiges händchen. Wir bleiben vielleicht zwei minuten so stehen. Beide haben wir die ruhe nicht, solch glücklichen moment auszudehnen. Wir kosten ihn, genießen ihn kurz. Ich vergesse ihn nie.
Nie zuvor hatte ich solch eine weite, solch etwas großes gesehen. Noch nie solch eine kraft gespürt. Nicht bedrohlich, unbändig zwar, aber anziehend. Nie mehr wird das meer seine anziehungskraft verlieren. Immer wieder und vielerorts werde ich suchen nach dieser größe, dieser weite, dieser faszination.
Zehn jahre später bittet mein vater mich, ihn zu begleiten zu einem grundstück, das er gerade erworben hat. Eine wiese am ende einer wohnstraße, eine baustelle an einem nach der letzten biegung noch unbebauten und unbefestigten weg. Mit freiem ausblick in alle himmelsrichtungen. Unverbaubarem blick, rund herum nur äcker und wiesen. In einiger entfernung die niederländische transitstraße.
„Wie findest du den blick?“, fragt vater mit ähnlicher zufriedenheit, fast dem gleichen stolz wie in Noordwijk. Wie findet ein 16jähriger aufmüpfiger gymnasiast den anblick von rüben- und kartoffelfeldern? Ich will nur weg hier. Doch er zeigt mir Koningsbosch auf holländischer seite, könig Pippins wald und jagdrevier, dahinter den neuen tv-turm von Roermond. Er weitet meinen blick bis ins ‚Lange Feld‘, zum hohen spitzen turm der braunsrather kirche und zu den fördertürme von Sophia Jacoba. Er erklärt mir, in welchem loch Schalbruch verschwindet – den ort kann er nicht leiden – und das wievielte dunkele dach vor der Haverter kirche unser haus sein muss. Er weiß, was er sieht: das Saeffelbach-tal, Sittards ‚groote kerk‘, die schwefelflamme der DSM-raffinerie, den Schlouner Berg und dahinter die ersten hügel südlimburgs. Ein rundblick fast ohne begrenzungen. Ein weitblick über das land diesseits und jenseits der grenze.
Er hat das grundstück rasch bebaut und musste es billig verkaufen. Um die mittelmäßigen häuser mit ihrer kundenorientierten architektur, hat’s ihm nicht leid getan. Aber diesem weiten blick hat er lange nach getrauert.
Einen fernen blick tun in die weite welt, von der er viel gelesen, aber wenig gesehen hatte. Die zwei kriege hatten ihn nur bis Nordfrankreich gebracht. Reisen war noch ein seltenes vergnügen reicher leute in der ersten hälfte des vorigen jahrhunderts.
Vom nachkriegs-wirtschaftswunder und der niederländischen verwaltung profitierend fahren wir seit 1955 in urlaub: in die eifel, nach koblenz zu verwandten, an die Lahn, nach Bayern, an die see, zu den tulpenfeldern. 1960 fahren wir nach Rom. Nichts besonderes mehr. Reisen nach Italien liegen damals im trend. Mit vaters herzinfarkt, dem nachkömmling Marcel und der ersten baukrise 1967 enden die familienreisen.
Weit schauen, weiter gucken, ausblicke wagen aus der traditionellen enge des katholischen bauerndorfes. Mir ist das möglich in einem elternhaus voll energischem drang zu neuem. Einem elternpaar, das uns nie angst zeigte, aber immer mut machte. Aufgeschlossen trotz seiner strenge, neugierig auf das moderne trotz altmodischer härte, fasziniert vom fortschritt trotz konservativem glauben und leben.
Das virus des fernwehs ist tief eingedrungen. Die erfüllung dieser sehnsucht verspricht den stoff zu liefern, den ich im sturm der 68er suche, später im jungen glück der eigenen familie nicht brauche, aber schmerzlich vermisse, als das idyll zerbricht. Bis heute, bis hier in den Oman treibt es mich.