Insel-Geschichte
Kuressaare, 14. 08. 2014
Vorgestern Nachmittag auf der Fähr-Überfahrt nach Tallinn fing es an zu regnen. In Tallinn hat’s in der Nacht anscheinend stark geregnet. In den Straßen gibt’s nämlich so große Pfützen, dass ich mehrmals von vorbeifahrenden Autos voll gespritzt werde. Seit 6.30 Uhr sitze ich schon auf dem Rad, weil ich heute bis zur Insel Muhu kommen möchte. 140 km mindestens. Es ist trotz des Regens schon morgens 21 Grad warm. Der Wind weht nur schwach, aber mit dem Regen kommt er aus Südwest, mir entgegen – nicht so schlimm.
Kurz nach 9 Uhr hört es auf zu plästern. Gegen Mittag ist es doch wieder 26 Grad warm. Kurze Zeit später wird der Wind böig. Helle Wolken ziehen auf. Dunklere folgen. Es tröpfelt zunächst nur leicht. Wenig später setzt ein heftiger Gewitterregen ein. In einer Bushalte finde ich Schutz. Zugig und kühl ist es in der Holzbude. In meiner Regenkleidung wird mir nach wenigen Kilometern wieder warm.
Mehr noch als Regen und Wind trifft mich nach dem wochenlangen strahlenden Sonnenschein das trübe Grau dieser Lanschaft. Anderns als in Finnland sind hier alle Felder abgeerntet. Die Bauern fahren unter drohenden Wolken die letzten Strohballen ein. Das Birkenlaub färbt sich spätsommerlich gelb, was wohl auch mit der langen Trockenheit in diesem Sommer zusammen hängt. Die gelblich welken Gräser und verblühten Wildkräuter, die braunen Sauerampfer-Rispen, die orange leuchtenden Ebereschen – alle zeigen, wie lang der Sommer war und künden den nahen Herbst an. Diese Gedanken und der nächste kräftige Regenschauer lassen in mir das Gefühl noch stärker werden, das mich schon Sonntag abend in Helsinki beschlich: ich muss die Reise zu Ende bringen – muss nach Hause fahren.
Immer noch warm und regen-trocken, aber schweiß-nass erreiche ich kurz nach halb vier Virtsu, wo jede halbe Stunde eine Fähre abfährt auf die kleine Insel Muhu. Heute warten hier im Regen nur drei Wohnmobile, einige Autos, zwei Motorräder und drei Fahrräder, während hier an Hochsommer-Wochenenden Inselbesucher in einer kilometerlangen Autoschlange stundenlang warten müssen.
Muhu ist die Fußmatte Saaremaas sagt man. Jeder der auf die viel größere und hübschere Nachbarinsel will, muss erst nach Muhu. Kaum jemand bleibt hier. Über den 2,5 km langen Damm zwischen den Inseln, fahren fast alle Besucher gleich weiter. Das junge Radler-Paar aus Augsburg, mit dem ich an der Fähre zusammenteffe, will aber in Liiva, dem zentralen Ort Muhus übernachten, da sie im „Reise-Know-How“ von einem hübschen Zeltplatz gelesen haben. Ich schließe mich ihnen an, weil ich in Liiva heute genug geradelt bin.
Wie so oft an den friesischen Inseln wird unsere Hoffnung erfüllt, dass der Regen vom Festland die Inseln verschont. Am Abend können wir die Zelte im Sonnenschein aufschlagen. Zwei durch Lettland wandernde junge Männer mit ostdeutschem Akzent bauen auch noch auf. Fünf Deutsche, sonst niemand auf dem dörflich kleinen Platz, auf dem auch einige Nurdach-Hütten Gästen Schlafplätze bieten. Die Besitzerin kommt erst abends spät, schaut kurz nach dem rechten, kassiert und fährt wieder.
Starker Gewitterregen mit nahen Blitzen und kräftigem Donner lassen mich in der Nacht aufwachen. Alles ist trocken und sicher. Morgens um 7 regnet es noch. Ich führe Tagebuch und schaue im ‚lonely planet‘ nach, was ich auf Saaremaa nicht verpassen sollte. Die Sonne kommt hervor. Eine Stunde später ist der Holztisch nebenan so weit trocken, dass ich dort frühstücken kann. Mein Außenzelt trocknet auch rasch. Um halb elf kann ich aufsteigen.
Auf dem Damm weht der Wind mir tüchtig ins Gesicht. Eine finnische junge Radlerin vor mir hat’s so schwer, dass ihr Begleiter sie immer wieder aufmuntern muss. Im ersten Ort auf Saaremaa machen sie ihre Frühstückspause, während ich einen Kaffee trinke.
Die Landschaft auf Saaremaa hat deutlichen Venncharakter: Moosige Grasflächen, grau-grüne Flechten, nasse, sumpfige Stellen, niedrige und knorrige Kiefern, viele Birken. Manche der kranken oder abgestorbenen Bäume regen mit ihren dunklen, kahlen, ofh krummen Ästen die Phantasie an: Wesen mit mehreren Armen, der Ungeheuer mit offenem Maul.
Kurz vor vier komme ich in Kuressaare – füher Arensburg – an. Ein kleines Städtchen mit einigen hübschen Gebäuden im alten Kern, wie das Rathaus, das Waagenhaus, die alte Feuerwache, die verschiedenen Kirchen.
Unerwartet mächtig und hoch mit ihren drei Türmen hinter dem Stadtpark und dem breiten Wassergraben die trutzige Bischofsburg. Um den Stadtpark einzelne gut aussehende Holzvillen und das Kurhaus. Auf dem Wassergraben Ruderboote und Kanus. Im Burghof, das Mahnmal für die 90 Kuressaarer Widerstandskämpfer, die 1945 hier erschossen wurden.
In der Burg ein Museum, das dem Besucher die bewegte Geschichte der Insel und der Stadt anschaulich näher bringt. Dreimal wurden sie unter großen Verlusten in der Zivilbevölkerung zwischen 39 und 45 heiß umkämpft, erobert und besetzt. Nazi-Kollaborateure, Freiwillige Rot-Armisten, freiheitlich nationale Kämpfer, Widerständler gegen die Sowjets, unschuldig verdächtigte und deportierte Zivilisten, – viele haben im und nach dem Krieg auf Saaremaa ihr Leben gelassen.