Liepaja -Karosta

Saldus, 21. 07. 2014

Zum Umgang mit Reiseführern habe ich ein zwiespältiges Verhältnis: Einerseits bin ich auf die Informationen aus gut recherchierten und möglichst aktuellen Führern angewiesen. Andererseits überfrachten sie mich mit Details, die ich gar nicht kennen will. Vielmehr will ich mir mein eigenständiges Bild von einer Region oder Stadt machen. Will gar nicht durch die Brille des Reiseautors gucken, sondern mit meinen eigenen Augen und anderen Sinnen die neue Umgebung aufnehmen.

Aber es gibt auch den kligen Spruch der Reiseführer-Literaten:  Was du nicht kennst, das siehst du nicht! Wenn ich in Liepaja nicht den lonely planet – Tipps gefolgt wäre, hätte ich drei tolle Entdeckungen nicht gemacht:

„Knallig und mit jeder Menge goldener Farbe präsentiert sich das ‚Fontaine royal‘ (…) Überall stehen Nippes und Skulpturen. Bei all dem (…) wird man erst mal blinzeln müssen und den Eindruck haben, in einem überladenen Renaissance-Gemälde zu nächtigen – eindeutig besser als in einem der eintönigen Durchschnittsmotels in der Stadt.“ (Zitat lonely planet)  Das will ich ausprobieren.

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Von außen finde ich das rote Holz schon mal gar nicht so knallig. Die Rezeption ist hinter einem Nippes-Laden untergebracht. Was laut „lp“ nur Deko war, ist inzwischen zu einem Nebengeschäft geworden. Der Raum dadurch überladen, aber nicht schrill.

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Es ist nur ein günstiges Zimmer im zwei Häuser weiter gelegenen „guest house“ frei. Das ist nach meinem Geschmack jedoch schöner als das Stammhaus. Auch hier sind auffällige Farben verwendet worden. Aber sie setzen passende Akzente zu den vielen originalen Möbeln. Manches ist stilmäßig unpassend, aber atmosphärisch gut kombiniert mit antiquarisch anmutenden Accessoires wie Papp/Leder-Koffer, Hüten oder buntem Wandteppichen. Der alte knarrenden Dielenboden im ganzen Haus, die schon durch ihre Farben Wärme ausstrahlende Ofenecke, die neue dunkle offene Gemeinschaftsküche – alles ist liebevoll restauriert oder neu eingebaut mit Geschmack und dem richtigen Gefühl für das alte Haus mit der neuen Funktion. Ein Gästehaus, in dem ich länger Ferien machen möchte.

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Dass der Strand von Liepaja selbst an diesem sehr warmen wenn auch windigen Sonntagnachmittag so weit, so weiß und so leer sein würde, hätte ich mir nicht träumen lassen. Unbedingt will ich aber noch den beiden anderen lp-Tipps folgen. Doch erst einmal schwimmen, dann ausruhen, kurz noch mal auf die morgige Route schauen. Die Kathedrale und das Gefängnis in Karosta mache ich morgen als Abstecher vor der Weiterfahrt Richtung Riga.

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Karosta ist ein außergewöhnlicher Stadtteil von Liepaja. Er ist bekannt wegen der bildschönen orthodoxen Kathedrale und einiger Backstein<Gebäude aus der Zarenzeit. Karosta ist berüchtigt wegen der über 100 Jahre alten militärischen Strafanstalt und den häßlichen Militär-Wohnungen aus der Sowjet-Zeit.

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Zunächst fahre ich zum Gefängnis. Ich bin zu früh. Um mir die Wartezeit bis zur ersten Führung um 10 zu verkürzen, bekomme ich eine DVD in Deutsch zu sehen, in der die letzen 100 Jahre Karostas sehr eindringlich dargestellt werden:  Um das Jahr 1900 ließ der Zar diesen Ort zum wichtigsten Kriegshafen seiner Marine ausbauen, weil er stets eisfrei bleibt. Mit dem Militär und den vielen Offizieren nahm das gesellschaftliche Leben in Liepaja  und auch in Karosta selbst fast höfische Formen an. Liepaja war für die damalige Offiziere ein begehrter Standort in einer Art Ausland, nah und schön allein schon wegen der Ostsee und ihrer Strände. Deshalb ließ der Zar auch eine imposanten Kathedrale mit wuchtigen Zweibeltürmen bauen. Auch heute feiert eine kleine orthodoxe Gemeinde hier Gottesdienst, den ich nur durch eine Glastür fotografiere, weil Kameras im Gebetsraum verboten sind. Es sind nur noch wenige Russen in Karosta geblieben nach dem Zerfall der UdSSR. Letten sind hier an der Küste in der Mehrzahl  Lutheraner. In Ostlettland gibt’s wegen der langen polnischen Besatzung viele Katholiken.

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Im ersten Weltkrieg zunächst von den Deutschen eingenommen und besetzt dann von den revolutionären russischen Truppen zurück erobert, wurde Lettland  zwischen den Weltkriegen kurz selbstständig und Liepaja zum lettischen Marinestützpunkt. Doch die beiden Riesen-Nachbarn stritten weiter um den strategisch wichtigen Hafen. Weil die russische U-Bootflotte zu einem großen Teil hier stationiert war, wurde der Hafen im zweiten Weltkrieg zerbombt und wieder von den Deutschen erobert. Nach 45 bauten dann die Sowjets den Hafen noch weiter aus. Liepaja wurde Sperrgebiet. Die Kathedrale zum Kino und Vergnügungssaal. Ihre goldenen Türme grün übermalt.

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Gleich neben sie und den reichgegliederten Backsteinbauten aus der Zarenzeit stampften die Sowjets hunderte von Soldatenwohnungen imBilligst-Plattenbau  aus dem Boden. Die unmittelbare Nähe zwischen goldener Pracht und  verrottendem Grau kommt einem heute fast unwirklich vor. Das kann doch nicht sein, denke ich immer wieder: Auf der einen Seite des schmiedeeisernen Zaunes löchriger Asphalt, aufgebrochens Pflaster, kein Baum, kein Strauch. Kinder spielen im Staub des nicht mehr vorhandenen Bürgersteigs. Auf dieser Seite des Gitters pflegt eine Gärtnerin die reich blühenden Blumenbeete und den Rasen im Schatten der gelb-goldenen Kirche, die nochweiter restauriert wird.

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So wie die Nicolai-Kirche hat auch das Marine-Gefängnis von Karosta all diese Schrecken und Wendungen der letzten 100 Jahre mitgemacht und ist dabei bis 1992 immer Haftanstalt geblieben, obwohl der Zar es eigentlich als Militärhospital bauen ließ.

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Das Gefängnis kann man heute nicht nur besichtigen, man kann darin auch übernachten. Als einfacher Gast in zu spartanischen Gästezimmern umgestalteten ehemaligen Zellen. Als weitere – wie der Museumsführer mir berichtete – durchaus häufig gebuchte Attraktion mit Masofaktor, kann man sich hier als Häftling einsperren und auch bestrafen lassen.

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Obwohl der Guide immer wieder betont, dies sei kein KGB- sondern ein reines Militär-Gefängnis gewesen. Egal unter welchem Regime – Zar, Kaiser, Letten, Nazis oder Sowjets hier hätten immer nur Soldaten eingesessen – wegen dienstlicher Vergehen, Ungehorsam, Aufsessigkeit aber auch wegen krimineller Verbrechen.

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Die Strafen – von denen manche auch heute den Gast-Knastis angeboten werden – schildert der junge Mann sehr drastisch. Er schließt mich einmal sogar unangekündigt in einer völlig dunklen Zelle für einige Sekunden ein. Nur um mich mal fühlen zu lassen, wie das ist, wenn plötzlich die schwere Tür zuknallt, der Schlüssel krachend umgedreht wird und um dich herum alles völlig dunkel ist. In solchen Zellen sind Gefangene bis zu 24 Stunden gesteckt worden. Manche sind daran seelisch gebrochen. In einer anderen etwas größeren besonders hellhörigen Strafzelle musste der Gefangene ständig marschieren, so dass die Wächter seine Schritte hörten. Bis zu 8 Stunden vom Fenster zur Tür und wieder zurück. Manche haben völlig ermattet versucht, noch eine Zeit lang ihre Schuhe an den Händen – das Marschieren vorzutäuschen. All diese Bestrafungen wurden ausgesprochen bei Verstößen gegen die Gefängnis-Ordnung. Wenn sich Soldaten zum Beispiel unerlaubter Weise in einer Gruppe getroffen hatten, ob nun zum Quatschen, zum Rauchen oder zum Protestieren, dann wurden sie als Strafe in einer recht kleinen Zelle zu vierzig oder noch mehr Häftlingen eingeschlossen, so dass jeder nur stehen konnte, Schulter an Schulter, Bauch an Po, in direktem Körperkontakt, stundenlang, ohne Toilette, ohne Frischluft.

Die normale Zelle hatte ein vergittertes Fenster. Viele Fenster wurden in den letzten Jahrzehnten vor der Schließung durch unterhaltsfreundlichere, aber nicht zu öffnende Glasbausteine ersetzt, Des weiteren ein Bett mit Matratze und Decken, einen fest installierten Metalltisch mit Hocker und einen Toiletteneimer. Je nach Schwere des Vergehens oder Laune des Wachpersonals konnten davon Abstriche gemacht werden: statt Bett eine Holzpritsche, statt Tisch Essen auf dem Boden, statt Toiletteneimer eine Ecke wählen.

Während bis zum 2. Weltkrieg Zellen noch farbig und weiß gestrichen waren, ließen die Sowjets zum Schluss alle Zellen und Flure etwa 2 Meter hoch schwarz streichen, weil sie diese Farbe reichlich zur Verfügung hatten.Sie ließen die Häftlinge mit U-Boot-Farbe streichen.

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Die Anstalt wurde nach der Unabhängigkeit Lettlands 1992 Marine nicht weiter geführt, sondern zum Museum umfunktioniert. Deshalb kann man in den früheren Büro -und Anstaltsleiter-Räumen noch eine Sammlung von sowjetischen Militär-Uniformen, Kopfbedeckungen, Orden und anderen Militaria sehen. Anhand der vollständigen Fotoreihe der sowjetischen Präsidenten wurde ich dann noch geprüft, ob ich deren Name kenne. Ein wenig Sowjet-Nostalgie schwebte dann doch zumindest in diesen Räumen. Mir bereitete der Besuch ähnlichen Magendruck wie der im KZ. Mich hier freiwillig für eine Art Abenteuer oder Selbsterfahrung einsperren zu lassen, käme mir nie in den Sinn.