Durchs Limousin ins Perigord
Samstag, 08. 07.: Limoges – Perigueux
8. etappe: Limoges -Perigueux 125 km 20,5 km/h insg. 1065 km
Die sehenswürdigkeiten von Limoges kann man mit dem fahrrad nicht besser besuchen als an dem morgen, an dem die Tour de France im zentrum der stadt startet. Die innenstadt ist komplett abgesperrt. Nach dem üblichen spärlichen französischen frühstück im gewerkschaftsheim, bei dem die beiden australier nur gemotzt, aber dennoch jeder ein ganzes baguette und einen liter milch verputzt haben, kann ich genüßlich über breite autofreie boulevards und absolut verkehrsleere plätze radeln.
Zuerst besichtige ich die ‚Chapelle Saint-Aurelien’ im ‚metzger-viertel‘ einem der ältesten stadtteile mit engen gässchen und kleinen restaurants. Die kapelle und die verehrung der hier seit 1315 aufbewahrten reliquien des heiligen Aurelian wurde gefördert von der ‚cooperation des bouchers‘, die sich schon 930 gegründet hat und bis heute als eine art berufsgenossenschaft besteht.
Die jakobspilger besuchten zwar auch diese kapelle, aber der eigentliche jakobsweg führte sie, wenn sie – wie ich – aus nördlicher richtung kamen, über die Pont St. Etienne zur kathedrale St. Etienne, die hoch über der stadt liegt. Mehr östlich von St. Leonard de Noblat kommend betraten sie Limoges über die Pont St. Martial. Sie besuchten auf dem Jakobiner-platz die crypta des heiligen im zentrum der stadt. Also radle ich auch runter zur Vienne und nehme dann den alten pilgerweg zur kathedrale, wobei ich auf einem mit natursteinen gepflasterten teilstück von etwa 30 metern mit bestimmt 20% steigung das erste und einzige mal auf meiner tour das kleinste kettenblatt auflegen muss.
Schließlich fahre ich zum Place du Forum, wo das ‚village de depart‘ der Tour de France aufgebaut ist. Dort kommt man nur noch mit offizieller akkreditierung weiter. Als ich für ein zweites frühstück auf einer ecke des platzes an einer bäckerei mein bepacktes rad abstelle, versammeln sich einige neugierige um meinen lastesel. Darunter ein etwa 30jähriger kolumbianer mit akkreditierungskarte um den hals, der mich freundlich in englisch nach meiner herkunft, meinem ziel und meinen tagesetappen befragt. Er erklärt seinen beiden begleitern und einigen mit lauschenden umstehenden, dass er in Südamerika große touren mit gepäck fahre und von daher Ortlieb-radtaschen als die strapazierfähigsten und dichtesten und schwalbe-marathon-reifen als die pannensichersten kennen und schätzen gelernt habe. Auch meinen Rolls-sattel lobt er. Ich kann das nur bestätigen. Dann möchte er kurz die aero-position meines lenkers testen. Ich biete ihm an, mal auf dem rad zu fahren, aber er stützt sich nur kurz auf und meint lachend, er sei für mein rad ca. 20 cm zu klein, könne sich aber vorstellen, dass die position entspannend und doch aerodynamisch sei. Zum schluss lädt er mich ein nach Südamerika zu kommen. Dort könne ich mit ihm herrliche ‚long distance‘-touren machen. Ich bedanke mich für die freundliche einladung, gebe aber zu bedenken, dass das flugticket recht teuer wäre und die Anden Kolumbiens wahrscheinlich nicht gerade das geeignete terrain für einen 80 kg schweren 50jährigen norddeutschen wären. Er lacht und meint, dann müsste ich eben trainieren. Leider kann ich seinen namen auf dem ausweis aus dieser entfernung nicht lesen. Ich traue mich auch nicht näher ran zu gehen oder ihn zu fragen, als er ins ‚village de depart‘ weiter geht.
Gegen 10 uhr bei herrlichem sonnenschein und erstmals rückenwind rolle ich locker raus aus der immer noch lahmgelegten stadt über Condat sur Vienne auf wunderschönen kleinen landstraßen ins tal der Briance. Dieses teilstück habe ich zuhause nicht geplant, weil ich von der abtei Solignac erst gestern im verkehsbüro von Limoges gelesen habe. Aber das tal ist herrlich ruhig, ganz grün und wenig bebaut. Die Briance plätschert neben mir und an ihrem ufer sitzen angler in der sonne.
Auch wenn sie nicht genau auf meiner ursprünglich geplanten route liegen, möchte ich jetzt, da ich im Limousin immer mehr spuren des jakobsweg finden kann, diese auch aufsuchen, sofern sie nicht zu weite umwege verlangen. Zunächst bin ich mir nicht sicher, ob ich hier tatsächlich auf der historischen route bin, weil ich in südöstlicher richtung radle, wobei mir klar ist, dass es nicht einen, sondern viele jakobswege durchs Limousin gibt. Aber an der romanischen brücke in Pont Rompu erkenne ich sofort, dass ich hier tatsächlich dem alten pilgerpfad folge.
Hier könnte ich schon südwestwärts über die Briance richtung Flavignac abbiegen – ebenfalls eine alte pilgerstation -, aber ich fahre weiter bis Solignac, weil es dort eine noch lohnendere abtei geben soll. Tatsächlich ist Solignac ein gut erhaltener mittelalterlicher ort mit einer nicht von innen zu besichtigenden abtei, die schon 632 vom heiligen Eloi gegründet, mehrmals im mittelalter zerstört, aber im 19. jahrhundert mit großem einfühlungsvermögen wieder aufgebaut wurde.
Imposanter als die klostergebäude ist die ‚Abbatiale‘, die zur abtei gehörende romanische kirche, die im innern einige architektonische überraschungen bietet und bei aller nüchternheit eine wohltuende ruhe und harmonie ausstrahlt. Besonders mächtig erscheint sie durch ihre gemauerten gewölbe auf säulen quadratischen querschnitts aus gleichem stein, die verziert sind mit seltsamen kopffiguren, den sog. ’stalles‘.
Das südliche stadttor ‚Port de St. Jean‘ ist noch erhalten, aber nicht zu begehen. Von dort führt eine pflasterstraße zur romanischen pilgerbrücke über die Briance. Am südlichen ufer des flüsschen halte ich auf einem rastplatz meine mittagspause. Wieder verputze ich alles, was ich vorher in dem kleinen dorfladen nahe der abtei gekauft habe.
Nur ein wenig brot und zwei bananen packe ich wieder ein. Dabei entdecke ich in der trikottasche den zimmerschlüssel des gewerkschaftsheims. Merdre! Ca arrive! Zum glück habe ich ein hausprosekt mit der adresse mitgenommen. Ich stecke den schlüssel in einen briefumschlag und werde ihn im nächsten dorf auf die post geben.
Jetzt geht’s weiter ständig auf und ab durchs Limousin, mit seinen vielen bächen und fischreichen flüsschen, mit großen schafherden und kleinen abgelegenen dörfern. Das Limousin ist eines der dünn besiedelsten gebiete Frankreichs. Auf den nächsten 25 km muss ich vier anstiege von jeweils fast 4 km länge und mehr als 7 % steigung bewältigen. Weil es hier zwischen den hügeln kaum weht und die sonne heute zum erstenmal auf meiner fahrt richtig warm vom himmel scheint, komme ich ganz schön ins schwitzen. Zum glück habe ich bei der mittagsrast genügend wasser übrig gelassen.
Nach 6,5 km in Champagnac bin ich ziemlich geschafft und entschließe mich Flavignac auszulassen, weil ich dann wieder runter in ein anderes tal müsste. Ich ziehe es vor, oben zu bleiben und über die D 11 direkt Nexon anzusteuern, um dann über die etwas breitere D 15 nach Chalus zu fahren. Auf dieser strecke muss ich aber auch zweimal steigen – jeweils fast 200 höhenmeter auf 7 km. Dabei passiere ich außerhalb von Les Cars die ruine eines ‚chateau feodal‘ mit einem gut erhaltenen ‚donjon‘.
An der nächsten gabelung biege ich nicht richtung süden auf die D 20 ab, wie ich es ursprünglich vorhatte und es wahrscheinlich dem historischen jakobsweg eher entspricht. Aber ich will in Chalus zur burg hoch radeln, denn auf ihr ist 1199 Richard Löwenherz in folge eines pfeiltreffers gestorben. Für diesen edlen ritter habe ich als kind doch so geschwärmt. Vom jakobsweg ist in diesem ort keine spur zu entdecken.
Weder in Champagnac noch in Les Cars entdecke ich eine poststelle, um eine briefmarke zu kaufen. In Chalus ist die post zu, denn es ist samstag nachmittag. Dann kann ich eben erst in Perigueux – am sonntag? – den brief aufgeben. Nun evt. wird es eben bis montag dauern, ehe ich den schlüssel zurückschicken kann.
Über die N 21 fahre ich weiter nach ‚La Coquille‘ (die muschel) einer ehemaligen poststation auf dem jakobsweg. Vor dem ort unterhält das departement Dordogne, in dem ich inzwischen bin, eine ’station verte‘ mit grill- und spielplatz, infoständen über lokale sehenswürdigkeiten und typische landschaftsformen sowie schautafeln über landwirtschaft und handwerk, fauna und flora im Perigord. Diese waldreiche, aber äußerst abwechslungreiche landschaft, die von tiefen flusstälern durchzogen wird, ist in Frankreich und auch bei zahlreichen touristen vor allem bekannt für ihr mildes klima, die höhlen mit prähistorischen wandmalereien, ausgedehnte kastanienwälder, gänseleberpastete und trüffel. Von diesen attraktionen habe ich mir auf meiner durchreise allerdings nur ‚foie gras‘ gegönnt.
Ein junger mann in der station schlägt mir vor, hinter Thiviers die N 21 zu verlassen und auf der ‚Route Napoleon‘ bis Perigueux weiter zu fahren. Die sei viel verkehrsruhiger und beschaulicher und wäre auch die bevorzugte route der fußpilger.
Nachdem ich bei einem metzger die o. g. gänseleberpastete und ein schüsselchen selleriesalat gekauft und gleich gegessen habe – nach all dem obst und den süßen müsliriegeln war mir nach etwas herzhaftem zu mute – kann ich zügig durchfahren bis Thiviers. Am ortsausgang richtung Perigueux, an dem auch der napoleonsweg abzweigt, finde ich ein steinernes jakobskreuz und eine pinte ‚St. Jacques‘.
Als ich das kreuz fotografiere, spricht mich ein junger schweizer radler an, der auf einem fast ebenso alten und genauso beladenen Trek-rad unterwegs ist wie ich. Er fährt von Chur nach Biarritz. Der ‚Andi‘ ist kein sehr geübter radfahrer, wie ich an seinem nackten oberkörper und seinen turnschuhen feststelle. Zwar erzählt er von 180 km etappen, aber als ich ihm vorschlage, die ruhigere nebenstrecke zu fahren, bleibt er lieber auf der natonalstraße, weil die wahrscheinlich weniger steigungen besitze und kürzer sei. Außerdem wolle er den wind, den auch er heute zum erstenmal im rücken hat, ausnutzen. Also verabschiede ich mich gleich wieder von ihm, wobei ich mir aber vornehme an der stelle, an der die nebenstrecke die nationalstraße wieder kreuzt, kurz auf ihn zu warten, wenn ich denn überhaupt vor ihm dort ankomme.
Übrigens hat Andi recht. Bisher hatte auch ich fast immer gegenwind auf meiner tour. Aber seit Chalus spüre ich deutlich, dass der wind heute von norden weht.
Die ‚route napoleon‘ ist tatsächlich ein gedicht für radfahrer, steigt und fällt kaum mehr als vorher die N, führt aber an einsamen bauernhäusern vorbei durch kleine weiler und ein größeres waldgebiet. An einigen stellen höre ich den verkehrslärm von der fast parallel verlaufenden nationalstraße. Dann wieder ist es absolut ruhig hier und ich sehe sogar einen falken über mir. Nach 8 km komme ich an die kreuzung mit der N 21, warte kurz und prompt keucht der Andi auf dem seitenstreifen heran. ‚Das war wohl eine abkürzung?‘ meint er und ist jetzt bereit, mir auf den letzten 20 km bis Perigueux auf der nebenstrecke zu folgen. Aber er hat es schwer. An jedem anstieg bleibt er zurück. Vor allem kann er nur kurz im stehen fahren. Trotzdem bleiben wir zusammen bis zur hauptstadt des Perigords.
Die stadt gefällt mir sehr: überall gut restaurierte alte gebäude, lebendig, voller junger menschen auf hübschen plätzen und kleinen märkten, aber doch beschaulich und gemütlich, so dass man auch an vielen orten in der innenstadt seine ruhe finden kann.
In einem café stelle ich fest, dass meine oberlippe aufgeplatzt und meine nasenwurzel wund und offen ist. Heute abend werde ich mir den schnurrbart abrasieren, damit ich die stelle besser pflegen kann. Gabriele wird das überhaupt nicht gefallen. Aber mich regt der blöde tropfenfänger schon seit jahren auf. Beim angestrengten radfahren bleiben ständig die rotzfahnen darin hängen und schuppig ist die haut darunter auch ständig.
Da Andi immer auf campingplätzen zeltet, trennen wir uns am ortseingang, denn er muss runter zum fluss, während ich zum ‚maison diocesaine‘ etwas oberhalb des zentrums zurück radele. Der gebäudekomplex diente früher als priesterseminar. Aber mit dem rückgang der priesterseminaristen ist die ausbildung zusammengefasst worden in Limoges. Deshalb wird das haus jetzt genutzt als tagungsstätte, gruppenunterkunft und pilgerherberge. Bis zu 80 personen können hier übernachten. Aber am samstag abend arbeitet auch hier fast niemand mehr. Ehe der junge mann, der in der küche zugange ist, den ‚directeur‘ herbei telefoniert hat, dauert es über eine halbe stunde. Dafür ist dieser dann ausgesprochen freundlich und hilfsbereit, obwohl er eine hochzeitsfeier verlassen musste, um mich einzuquartieren. Er zeigt mir fast das gesamte haus, leiht mir ein umfangreiches buch über den jakobsweg im Perigord, macht mich mit vier bretonischen älteren priestern bekannt, die hier urlaub machen, und transportiert sogar mit mir mein fahrrad im lift bis in die etage, in der mein zimmer liegt. Obwohl ich meine, ich könne es auch im erdgeschossflur stehen lassen, empfiehlt er es mit aufs zimmer zu nehmen, denn auch in der nacht würde das haus nicht abgeschlossen. Zum schluss bittet er mich, unbedingt etwas ins gästebuch einzutragen. Als ich vorschlage, die eintragung in deutsch zu verfassen, schüttelt er den kopf und meint, das könne niemand hier verstehen.
Für die übernachtung muss ich einschl. frühstück und abendessen 155 ff zahlen. Ich bekomme dafür ein großes, mindestens vier meter hohes, altes einzelzimmer, in dem noch nicht renovierten teil des komplexes, wie der direktor betont. Waschräume und wc sind jedoch ganz neu. Das abendessen – verschiedene salate u. a. spargel-schinken-eier-salat, kalter braten, wurst und käse – ist ausgezeichnet und reichlich. Dazu gibt es einen frischen rotwein aus dem Burgund, der drei pastören und mir sehr gut schmeckt. Die priester wollen einiges von mir wissen. Aber sie erzählen viel mehr von ihren wanderungen und erlebnissen, wovon ich aber kaum etwas verstehe. Der hagere abstinenzler unter ihnen lacht nicht so viel und scheint zu merken, dass ich längst nicht alles mit bekomme. Deshalb versucht er, mir mit weiteren erklärungen zu helfen. Aber auch das nutzt nicht viel.
Weil es noch so warm ist, möchte ich nach dem abendessen eigentlich noch in die stadt. Zu fuß ist es mir aber zu weit und das rad steht schon in meinem zimmer. Genügend wein hab ich auch schon getrunken. Also lege ich mich doch gleich ins bett und verfasse in mühsamer nachschlagearbeit einen kurzen text für das gästebuch. So was kann ich nicht mal im deutschen. Dann lese ich noch lange in dem ‚guide de pèlerin de saint jacques en perigord‘. Der hauptweg wird in dem buch durch folgende orte beschrieben: Firbeix, Thiviers, Perigueux, St. Astier, Mussidan, St. Foy la Grande und La Réole. Diese strecke entspricht haargenau der, die ich zuhause festgelegt habe.
Dem pilgerführer entnehme ich dann noch einige sehenswürdigkeiten oder lohnenswerte orte, die ich morgen ansteuern will. Wenn dann noch der wind seine richtung beibehält und das wetter so bleibt wie heute, werde ich locker bis La Reole kommen. Allerdings werde ich im ‚foret de landais‘ (zwischen Mussidan und St. Foy) tüchtig klettern müssen.
Ich bin froh, dass ich alleine unterwegs bin. Denn dann kann ich solche routenänderungen wie heute im Limousin ohne jede diskussion mit mir selbst ausmachen. Niemand macht mir vorwürfe, wenn die strecke zu schwer oder zu befahren ist. Pausen mache ich immer zum für mich richtigen zeitpunkt. Egal, mit wem ich zusammen gefahren wäre, es hätte bestimmt schon krach gegeben über solche entscheidungen. Außerdem merke ich doch schon auf dem teilstück mit Andi, dass mich sein langsameres tempo nervt. Rücksichtnahme und geduld gehören eben nicht zu meinen stärken. Leider nicht nur beim rad fahren. Vielleicht lerne ich ja noch auf dem jakobsweg.