Sommertag im Berry
Donnerstag, 06. 07.: Bourges – Aigurande
6. etappe: Bourges -Aigurande 111 km 20,2 km/h insg. 820 km
Ganz ruhig habe ich geschlafen (wäre mir peinlich, wenn ich meine asiatischen mitbewohner durch mein schnarchen gestört hätte). Dann für französische verhältnisse ausgiebig gefrühstückt; zusammen mit einem schwedischen motorbiker, der aus Stockholm kommend an die Cote d‘ Azur will. Gegen 8.00 uhr radle ich noch mal zur kathedrale, um die in der morgensonne jetzt bunt leuchtenden glasfenster zu bestaunen. Hier begreift man ein wesentliches merkmal der gotik: die mauern sind keine geschlossenen steinwände mehr, sondern die bautechnik dieser epoche erlaubt es, neue lichteffekte im innern der gebäude zu erzeugen, die den gebäuden eine geradezu magische wirkung verleihen. Für die menschen im mittelalter müssen diese farben völlig neu und die lichteffekte wie aus einer anderen welt gewesen sein.
Noch rasch einkaufen und um 10.00 uhr los. Der späte start beunruhigt mich heute nicht, denn ich habe meinen etappenplan geändert wegen der Tour de France-ankunft in Limoges am freitag. Ich habe beschlossen, heute nicht bis La Souterraine durch zu radeln, weil 145 km ohnehin bei dem gegenwind ein bisschen viel wären. Am samstag werde ich dann in einer angenehmen 100 km-etappe (statt 159 km) Perigueux erreichen, wodurch ich also für Frankreich insgesamt einen tag mehr brauchen werde. Aber der tag mehr zeit zahlt sich bestimmt aus, nicht nur wegen der Tour-ankunft.
Über die stark befahrene N 151, die gleich wieder lange bergan aus der stadt führt, komme ich schnell in ein vorstädtisches gewerbegebiet, aus dem ich auf herrlich ruhige nebenstraßen abbiegen kann. Schon nach 10 km bin ich in einer fruchtbaren, hügeligen getreide-landschaft.
Nur in den flusstälern, z. B. am Cher, gibt’s noch wiesen. Der Cher gefällt mir übrigens besonders gut. Ein flach dahin plätschernder fluss – ideal zum paddeln und spielen. Jetzt ist es noch früh, aber wenn die sonne so weiter scheint, werden in ihm heute nachmittag bestimmt viele einheimische ein bad nehmen. Grillen zirpen schon jetzt und gegen mittag ist es angenehm warm.
Auf der südlichen Cher-seite ab Lunery wird es noch ruhiger. Autos sehe ich so selten, dass ich anfange, sie zu zählen: zwischen 11.30 und 13.00 uhr 7 autos auf 30 km landstraße. So hab ich mir das vorgestellt: verkehrsarme kleine, aber langgestreckte straßen, in dünn besiedelten ländlichen gebieten mit von bunten feldblumen gesäumten äckern, sonnenschein und vogelgezwitscher.
Am angenehmsten ist, dass sich der wind weitgehend gelegt hat. Das rad läuft fast von alleine. Ich flöte fröhlich vor mich hin, trällere ein liedchen und lasse meine gedanken meinen augen folgend von einem zum anderen ‚gesichtspunkt‘ springen. Frei fühle ich mich. Losgelöst freue ich mich, dass ich nichts muss, aber kann, was ich möchte: ungestört und gleichmäßig dahin gleiten, kilometer um kilometer, in einem zufriedenen und dankbaren gefühl der zuversicht und des glücks.
In Lunery habe ich in einem kleinen laden besonders leckere frische lebensmittel eingekauft: selbstgemachter salat, ziegenkäse, obst, brot und wasser. Ich habe davon zweimal gegessen um 11.00 und um 14.00 uhr, diesmal an sonnigen plätzen einfach am straßenrand im gras.
Wie in Frankreich üblich hat auch jeder ort im Berry sein fahnen geschmücktes rathaus, die ‚mairie‘, oft mit angegliederter ‚ecole maternelle‘, wie es früher hieß. Jeder Ort hat aber auch eine alte kirche und oft ein kloster. Chezal-Benoit zum beispiel hat eine kirche aus dem 12. und 13. jahrhundert mit einer angegliederten abtei, in der heute menschen mit geistiger behinderung untergebracht sind.
In jedem größeren ort findet man irgendein ‚chateau‘, einmal ist es ein romantisches mit kleinen türmchen verziertes, verspieltes schlösschen. Ein andermal ist es eine ehemals befestigte burg mit wehrturm und graben, wie z.b. in Berthenoux, wo man allerdings dem ‚donjon‘ in neuerer zeit einen häßlichen kamin verpasst hat. Dann wieder ist es ein stattliches ‚herrenhaus‘ meist mit großem bauernhof wie in Prunieres. Der landadel, der aufgrund gesellschaftlicher veränderungen nach der französichen revolution und vor allem im 19. jahrhundert verarmte, konnte die großen gebäude nur notdürftig unterhalten. Aber auch die landwirte, die heute diese gutshöfe führen, können die last solch großer häuser kaum noch tragen, weshalb sie vielerorts zwar bewohnt sind, aber allmählich verfallen.
Die bauernhäuser im Berry sind alle ähnlich: meist langgestreckte fachwerkhäuser mit angebauten stallungen und scheunen. Nur selten sind sie blumengeschmückt, dafür quillen jetzt im sommer viele der bauerngärten über vor herrlich blühenden rosen, margeriten und vielen anderen stauden.
Auffallend im Berry sind die vielen wegkreuze, meist aus grauem stein gehauen – ich nehme an granit. In Pruniers, einem kleinen ort, in den man über vier verschiedene straßen gelangen kann, steht an jedem der vier ortseingänge ein solches kreuz, so dass ich schon glaube, ich sei im kreis gefahren.
Inzwischen bin ich im departement Indre, das für die Tour de France nur das profil einer flachetappe bietet, mir aber wesentlich längere anstiege beschert als ich sie zum beispiel von Süd-Limburg gewohnt bin.
In La Chatre lese ich auf einem straßenschild, dass es bis St. Julien Thevet über die größere D 940 nur 62 km sind, während ich über die kleineren nebenstraßen 71 km gebraucht habe. Diese mehr-kilometer entsprechen etwa meinen schätzungen, wonach ich durch die wahl von nebenstrecken etwa 8 – 10% mehr zurücklege als der autotourist, der die hauptverkehrsstraßen benutzt.
La Chatre stellt eine freudige überraschung dar: der mittelalterliche kern der stadt ist gut erhalten bzw. restauriert, vor allem die vielen lehm-fachwerkhäuser. Gepflegte parks im zentrum vermitteln südländisches flair und gelassenheit. Besonders stolz ist die stadt auf die berühmte schriftstellerin und frauenrechtlerin George Sand – der langjährigen geliebten von Frederik Chopin, die hier gelebt und in dem nahe der stadt gelegenen schloss Nohant für damalige verhältnisse ein freizügiges leben mit vielen befreundeten künstlern gelebt hat. Das ‚Musée George Sand‘ ist aber leider nicht geöffnet. Dafür kann ich mir wohl in einem der parks an einer statue der viel umschwärmten und lebenshungrigen frau ein bild von ihrer ausstrahlung und schönheit machen.
Der anstieg raus aus La Chatre ist happig. Le Magny heißt der kleine ort auf der höhe, in dem mir das uralte romanische kirchlein auffällt. Ein paar kilometer weiter auf dem mit 276 m höchsten punkt der D 72 verpasse ich eine abzweigung und rausche (64 km/h ohne zu treten) auf der vorfahrtsstraße parallel zu einer kleinen bahnlinie in ein hinterweltlerisches meist bewaldetes tal, aus dem ich erst kurz vor Aigurande auf die breite D 990 stoße. Nach einem weiteren km befinde ich mich auf einem typischen französischen dorf-marktplatz mit bahnhof, post, ‚mairie‘, einigen geschäften und dem hotel ‚le Relais de la Marche‘. Es ist schon 17.00 uhr und ich bin immerhin schon 110 km gefahren. Bevor ich ins hotel gehe, halte ich noch bei der post, um mir einen stempel geben zu lassen. In dem ‚logis de france‘-gasthof, bekomme ich ein gemütliches altmodisches zimmer mit weichem ‚grand lit‘, tv, dusche und wc.
Die annehmlichkeiten einer solch komfortablen unterkunft muss man als radtourist ausnutzen: ausreichend heißes wasser und platz im duschbecken für die große wäsche, genügend kleiderhaken zum aufhängen der wäsche und noch einen rest der abendsonne, die in den nach westen ausgerichteten fenstern meines zimmers die trikots und hosen hoffentlich bis morgen früh trocknen lässt.
Jetzt muss ich noch essen. Die zunächst recht kurz angebundene wirtin, die mein auf dem innenhof abgestelltes fahrrad fast verächtlich mustert, ist auf meine nachfrage hin bereit, mir ein menu zu kochen, obwohl ich ihr einziger gast bin. (Auch in der gaststätte sitzt niemand.) Sie schaut zuerst in der küche nach und macht mir dann ihr angebot: vier gänge für 75 ff (25 DM): vorspeise: assiette composée (fruits de mer, charcuterie, differentes salades), hauptgang: escalope de vache, ris, petits pois, carottes et une pommes de terre, nachspeise: mousse au chocolat und zum abschluss: fromages de pays
Den hauptgang bereitet sie frisch zu, wie ich erfreut rieche. Aber deswegen muss ich auch über 45 minuten auf den ersten gang warten. Obwohl ich um 19.30 uhr runter ins restaurant gehe, bekomme ich erst um 21.15 uhr mein dessert. Das macht mir aber nichts, weil ich auf der zum markt hin gelegenen terrasse in der abendsonne sitze, wohlig warm angezogen, denn es ist empfindlich kühl geworden nach 20.00 uhr.
Über oma Luzies anruf freue ich mich sehr. Besonders froh bin ich, von ihr gehört zu haben, dass Saskia und Sara doch zusammen urlaub auf Korsika machen werden. Hoffentlch wird Sara an der schule in Köln angenommen. Aber was wird dann mit ihren pferden? Irgendwie wird“s schon gehen. Gott weiß rat! (Kommt so ein satz vom pilgern?)
Nachdem ich der wirtin zum käse ein drittes ‚demi peche‘ bestellt und bestätigt habe, dass sie eine sehr gute köchin sei, wird sie freundlicher und fängt an zu erzählen, dass sie gerne koche und möglichst alle zutaten aus eigenem garten bzw. von händlern aus dem ort nehme. Als ich ein foto von ihrem hotel mache, verharrt sie beim abräumen kurz lächelnd auf der eingangstreppe, damit sie auch auf dem foto zu sehen ist. Bevor ich ins bett gehe, bietet sie mir an, schon um 7 uhr zu frühstücken, weil sie wisse, dass pilger stets früh aufbrechen. Ich nehme dankend an und kuschele mich rundum zufrieden ins bett. Nun, es wird die teuerste übernachtung meiner gesamten pilgerreise werden, aber es ist auch der komfortabelste abend, den ich auf dieser fahrt erlebe.
Ich liege noch lange wach und denke über diesen herrlichen tag nach. Der ringfinger der rechten hand fühlt sich komisch an, wie fremd, als ich seinen nagel reinige. Tagsüber beim rad fahren merke ich das gar nicht. Ich muss morgen entweder meine handhaltung ständig wechseln oder die lenkerpostion grundlegend verändern. Aber das ist wegen der montierten lenkertasche und der lesbarkeit der kartenhülle nicht so einfach.