Über waschbretter und himmelsleitern
Mittwoch, 05. 07.: Vezelay – Bourges
5.etappe: Vezelay – Bourges 137 km 18,8 km/h insg. 719 km
Um halb sechs werde ich wach. Innere uhr? Waschen, bett abziehen, taschen packen, runter in die küche, tee kochen. Von dem nescafé hatte ich gestern magenschmerzen. Nachdem ich dann tagsüber 4 tassen tee getrunken hatte, war alles okay. Tee passt ja auch viel besser zu den esoterisch angehauchten pilgern. Schnell zu fuß hoch zur kirche ins laude. In der morgensonne ist das licht im chor unbeschreiblich hell. Der raum erstrahlt wie in weißem marmor. Und dazu dieser warme wechselgesang der acht mönche und zehn nonnen. Zunächst glaube ich, dass der gesang vom band kommt. Aber als ich vom lautsprecher weg gehe, höre ich deutlich, dass sie live singen. Am liebsten möchte ich mein handy einschalten und Gabriele mit hören lassen. Aber es ist ja erst zehn nach sechs. Sie ist jetzt zwar schon auf, würde mich aber anfauchen: „Da hab ich jetzt keine zeit zu!“ Also lass ich es und genieße mit den anderen acht zuhörern diese halbe stunde in wohltuender losgelassenheit und entspannung.
Als die feier um 6.30 uhr vorbei ist, will ich gerade aus der sitzbank zum portal abdrehen, als der junge mönch mich begrüßt und fragt, ob ich heute schon gefrühstückt habe. Als ich verneine, lädt er mich zum frühstück ein. Ich nehme wieder dankend an und trotte brav hinter ihm her in das alte gebäude neben der kirche, dass ich schon von gestern abend kenne.
Wieder läuft alles schweigend ab. Zu meiner hellen freude gibt es neben den üblichen baguettes auch dunkleres und herzhafteres brot. Dazu konfitüre, milchkaffee, tee, o-saft. Ich traue mich zwar nicht, so viel zu essen, aber bisher ist es das beste frühstück, dass ich in Frankreich bekommen habe. Auch diesmal muss ich wieder mit abwaschen, aber noch vor halb acht verabschiedet mich der junge geistliche. Als ich ihn an der tür frage, wo ich eine spende abgeben kann, meint er, das wäre nicht nötig. Als ich 100 ff auf einen kleinen schrank lege, sagt er ganz bestimmt, das sei zu viel. Ich bedanke mich nochmals und erkläre ihm, wie gut mir der aufenthalt in Vezelay und insbesondere die einladung ins kloster getan habe.
Ich gehe in einer besonders frohen, fast erleichterten stimmung den berg runter an den allmählich erwachenden kleinen läden vorbei. Aus einer bäckerei duftet es so verlockend, dass ich dort gleich proviant einkaufe. Ein deja-vu! Dieses ‚leichte‘ glücksgefühl verbunden mit dem frischen brotgeruch kenne ich, aber weiß es nicht zu orten. Erst im lauf des tages, nachdem ich immer weiter in meiner erinnerung gekramt habe, fällt mir ein, dass ich mich als kleiner junge so gefühlt habe, wenn ich samstags nachmittags von der beichte nach hause rannte. Dabei kam ich auch immer an der duftenden dorfbäckerei vorbei.
In der küche von haus Bethanie sind schon viele der jungen franzosen beim frühstück, als ich dort ankomme. Dabei nimmt jeder von der anrichte oder aus dem kühlschrank, was er gerne mag. Ich lege zwei croissants, die ich eigentlich für unterwegs gekauft habe, zu dem anderen brot, nehme dafür aber eine schüssel müsli und milch, denn das esse ich zuhause täglich und habe es jetzt schon seit fünf tagen nicht mehr bekommen.
Gut gestärkt packe ich mein rad. Dann verabschieden sich alle, die in der küche und auf dem flur sind, von mir per handschlag. Die Amsterdamerin schenkt mir ein bildchen vom lächelnden engel von Reims mit einigen französischen sprüchen, die ich nicht ganz verstehe. Dann umarmt sie mich und ‚ermutigt‘ mich, sie spüre ganz genau, dass ich in Compostela ankäme und auch meine anderen ziele erreichen würde. Ich denke, dass erste weiß ich sowieso, aber welche anderen ziele sie meint, weiß ich nicht.
Es ist 9.30 uhr, als ich endlich losfahre, nicht ohne nochmals hoch zu strampeln zur kathedrale und dann durch die ‚Port neuf‘ den ort zu verlassen richtung Clamecy. Dort muss ich entscheiden, ob ich teilweise, ganz oder gar nicht über die N 151 fahre oder den umweg über die kleineren, hügeligeren departmentstraßen nehme.
Von der angestellten im office de tourisme in Clamecy erhoffe ich mir hilfen für diese entscheidung. Zunächst einmal hat sie zwar einen exakt ausgearbeiteten 125 km langen jakobsweg für reiter, aber keinen für radfahrer. Die route liegt ihrer meinung nach fest und stimmt genau mit meiner geplanten strecke überein. Allerdings folgt sie der nationalstraße. Die dame meint, dass die straße gar nicht so verkehrsreich sei. Auf meine nachfrage, ob die strecke denn hügelig sei, meint sie, bis Varzy kämen noch ein paar steigungen, aber dann sei sie ‚tout plat‘ bis la Charite sur Loire. Weiter wisse sie es nicht genau, glaube aber, dass im Berry sowieso alles flach sei.
Also fange ich erst einmal auf der Nationalstraße an. Bis Varzy ist sie wirklich nicht stark befahren, aber auf diesen 16 kilometern – für die ich eine stunde brauche – erklettere ich drei himmelsleitern bei starkem gegenwind. Zum zweiten mal auf der tour finde ich ein teilstück schwer, nicht wegen der prozente, sondern wegen der scheinbaren endlosigkeit. Aber ich erinnere mich, dass ich im verein gerade wegen meiner mentalen stärke in solchen schier nicht enden wollenden passagen mit viel gegenwind vorne weg fahren kann. Das hilft: Ich stelle mir vor, der ganze club hängt an meinem hinterad und schon fahre ich um einiges schneller. Ich muss grinsen. Alles eine frage des kopfes. Wenn ich mir jetzt noch vorstelle, wie mancher meiner trainingsfaulen radfreunde hier ‚abgehängt‘ würde… Na, ich bin doch auf einer pilgerfahrt. Solche gedanken ziemen sich da nicht.
Die landschaft sieht hier wieder rauh aus. Feuchtes weideland mit kleinen ‚etangs‘, auf dem viele schafe und manchmal braune rinder weiden, dazwischen waldgebiete. Die hügel erinnern mich an den Westerwald mit den vielen kleinen bächen wie dem ‚Pélerin‘. (Nur der accent unterscheidet ihn vom ‚pilger‘) Am dorfbrunnen von Varzy esse ich als zweites frühstück joghurt, obst und brot, auch weil ich erholung brauche.
Ab Varzy folgt ein waschbrett von 34 km bis an die Loire. Weiterhin ist nur wenig verkehr auf der straße, aber viel wind von vorne. Die sonne scheint zwar jetzt, aber warm wird es nicht, wegen des windes. Zum glück durchfahre ich aber auch hier immer wieder große staatsforste. Dort ist der wind nicht gar so hinderlich.
Die Loire sieht genau so aus, wie ich sie mir anhand von aufnahmen vorgestellt habe: breit und flach, doch lebendig, weil sandbänke und untiefen manchmal mit baumbewuchs mitten im bett den fluss immer wieder teilen und zusammen fließen lassen. Paddler trainieren darauf und kinder baden sogar darin, obwohl es heute höchstens zwanzig grad warm und das wasser noch viel kälter ist.
In La Charite gibt’s einen gut sortierten Aldi. Makrelen in senf, milchreis, brötchen, mousse au chocolat, 1,5 l wasser und 1 l ananassaft für 22 ff. Wer behauptet da, Frankreich sei teuer? Wie immer esse ich an der kirche, wie immer esse ich auch alles auf.
Nach der mittagspause fühle ich mich wieder viel stärker. Es folgen nochmals 40 kilometer gegenwind. Dabei muss ich zuerst aus dem Loiretal raus – etwa drei kilometer berghoch, dann hinter Sancergues noch zweimal kurz hintereinander je zwei kilometer steigen und schließlich noch rauf zu einer alten poststation bei Bercy etwa 250 m über dem meer. Hier blühen schon am 5. Juli große sonnenblumenfelder.
Nach fast 140 km – wovon 110 ‚vent contraire‘ – komme ich gegen 18.00 uhr ziemlich müde in Bourges an. Um ins zentrum einer großen stadt zu kommen, radelt man am besten direkt richtung kathedrale. Die kirche St. Etienne von Bourges ist überall in der stadt gut zu sehen und ein imposantes meisterwerk der frühgotik. Die westfassade mit der riesigen rose unter den beiden ungleichen türmen und ihren fünf portalen liegt jetzt am abend voll in der sonne. Von links nach rechts: St. Wilhelm-portal (erzbischof von Bourges im 13. jh.), portal der hl. jungfrau (13. jh.), in der mitte das berühmte tympanon mit der darstellung des jüngsten gerichts – im unteren teil die auferstehung der einfachen seelen, im oberen teil christus als richter, in den bogenläufen das paradies. Dann folgt das Stephanus-portal (schutzherr der kathedrale) und ganz rechts das St. Ursin-portal (erster bischof von Bourges). Mich beeindruckt die kirche aber noch mehr von der seite. Da wirkt sie wie ein riesiges schiff.
Ich muss Gabriele sofort anrufen und ihr diese kirche schildern. In die kirche werde ich morgen früh gehen, denn jetzt leuchtet nur die große westliche rose noch ein wenig im abendlicht.
Im modernen tourismusbüro in der nähe der kathedrale gibt man mir die adresse der pilgerherberge in der Rue Molière. Aber als ich an der kleinen alten holztür den klopfer bediene, öffnet niemand. Also versuche ich es wieder in der jugendherberge. Die liegt mitten in der stadt, ist modern ausgestattet und gut geführt, wie ich festsstelle, als ich dort eine läufergruppe aus Totnang am Bodensee treffe. Die läufer nehmen an einem staffellauf teil von ihrer heimat- in ihre partnerstadt St. Aignan im Berry – zwischen Bourges und Tours. Sie schwärmen von der unterkunft und dem guten essen. Also bleibe ich und lasse mir erklären, wie das mit dem staffellauf funktioniert: Insgesamt sind 18 läufer unterwegs, 6 räder sind im einsatz, 3 busse fahren läufer und räder zu ihren einsatzorten. Ein heidenaufwand mit einer umfangreichen organisation und einer menge pannen: verlaufen, stürze im dunkeln, radpannen, wechselstellen werden verpasst, busse finden läufer nicht bzw. nicht die gebuchten quartiere. Die busfahrer haben den meisten stress. Aber nach dem ‚diner‘ sind auch sie wieder beruhigt: lamm mit feinem gemüse, kroketten, salat als hauptgericht. Vorher melone mit schinken und suppe, nachher heller pudding und/oder obst. Das menu kostet nur 50 ff, genau wie der mikrowellenfraß von dem schmuddel in Troyes. Die übernachtung 48 ff, also insgesamt knappe 30 DM incl. wein und dem frühstück morgen. Wein können wir noch so lange nachholen, wie in der küche die zwei jungen leute mit spülen, aufräumen und den vorbereitungen für morgen beschäftigt sind. Schließlich haben ein busfahrer, einer der läufer und ich einen richtigen schwipps.
Einschlafen ist nach dem wein kein problem. Meine vier jungen zimmergenossen aus Indochina sind alle schweigsam und leise, auch als sie nachts aus der stadt zurückkommen und ich schon schlafe.